24. April 2024: AGF-Fachgespräch zur Ausgestaltung finanzieller Leistungen bei familienbedingten Erwerbsunterbrechungen oder Arbeitszeitreduzierungen

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Am 24. April 2024 fand in der AGF-Geschäftsstelle ein Fachgespräch zu konkurrierenden Formen der Ausgestaltung von finanziellen Ausgleichsleistungen für familienbedingte Auszeiten (wie z.B. das Elterngeld oder das in der Diskussion befindliche neue Familienpflegegeld) statt. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage, wie die unterschiedlichen Ausgestaltungsprinzipien solcher Leistungen begründet werden, wie sie wirken und welche „Nebenwirkungen“ sie haben.

Anlass für das Fachgespräch war die Mitarbeit der AGF im unabhängigen Beirat zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Konkret wurde der Diskussionsbedarf dadurch ausgelöst, dass die AGF bereits in zwei Beiratsberichten ein Minderheitenvotum zur Frage der Ausgestaltung eines finanziellen Ausgleichs für die Pflege von Angehörigen verfasst hatte. Während sich die Mehrheit des Beirats dafür aussprach, eine neue Geldleistung für die geplante Familienpflegezeit als Lohnersatzleistung auszugestalten, plädierte die AGF für eine Ausgestaltung als Pauschalbetrag. Dahinter steht die Konkurrenz zwischen gleichstellungspolitischen und sozialen Zielen der Leistung (vgl. zur Argumentation z.B. die Stellungnahme der AGF zum 2. Beiratsbericht).

Das Spannungsfeld der unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien wurde mit dem Sozialethiker Jun.-Prof. Dr. Jonas Hagedorn diskutiert. In seinem Impulsvortrag betonte Prof. Hagedorn die Notwendigkeit, die finanzielle Unterstützung für pflegende Angehörige zu verbessern, um soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu fördern.

Ausgehend von einer Analyse der Erwerbsarbeit als gesellschaftliches Verhältnis betont er die Bedeutung der unbezahlten Sorgearbeit für die Aufrechterhaltung der Erwerbsarbeitssphäre. Er diskutierte die Rolle von Solidarität in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften und die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates, Grundrechte (und ein gewisses Maß an Lebensqualität) von Pflegebedürftigen und Pflegenden zu gewährleisten.

Anhand von Statistiken zur Entwicklung der Empfänger von Pflegeleistungen in Deutschland unterstrich Prof. Hagedorn die wachsende Bedeutung des Themas. Er zeigte auf, wie sich die demografische Entwicklung auf die Notwendigkeit einer Neugestaltung der Pflegeunterstützung auswirkt. Hagedorn identifizierte mehrere Gerechtigkeitsdefizite im derzeitigen System, darunter die ungleiche Verteilung der finanziellen Lasten und die mögliche Subventionierung höherer Einkommensschichten durch die bestehenden Geldleistungen. Als Alternative schlug er ein einkommensunabhängiges Transfereinkommen vor, das direkt an die Pflegepersonen ausgezahlt wird. Dieses solle eine Grundsicherung unabhängig von der finanziellen Situation oder dem Einkommen der Pflegeperson gewährleisten. Er diskutierte verschiedene Aspekte dieser Neugestaltung, wie unterschiedliche Auszahlungsmodelle je nach Pflegestufe und die Notwendigkeit, das System so auszugestalten, dass es familiäre, nicht-kommerzielle Pflegebeziehungen unterstützt und gleichzeitig keine versteckte Subventionierung der problematischen Live-in-Pflege bewirkt.

Hagedorn plädiert für ein Pflegegeld, das ab einer bestimmten Pflegestufe beantragt werden könne und eine finanzielle Absicherung der Pflegepersonen biete. Das Pflegegeld würde von der Pflegekasse verwaltet und durch zweckgebundene Steuerzuschüsse finanziert.
Wichtig sei, dass das Pflegegeld auch während der Inanspruchnahme von Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege weitergezahlt werde und ein Bonus bei partnerschaftlicher Aufteilung der Pflegearbeit gewährt werde.

Zusammenfassend schlug Hagedorn ein umfassend reformiertes System vor, das die finanzielle und soziale Sicherheit von Pflegepersonen stärkt und eine gerechtere Verteilung der finanziellen Lasten anstrebt. Das vorgestellte Konzept ist auch in dem Policy Paper “Doppelte Personenzentrierung – Leitidee für den Leistungsmix in der häuslichen Versorgung” veröffentlicht.

Die anschließende Diskussion mit den Mitgliedsverbänden der AGF konzentrierte sich im Wesentlichen auf drei Punkte. Erstens wurden Fragen zu konkreten Ausgestaltungsproblemen eines solchen Systems gestellt. Zweitens wurden grundsätzliche Fragen der Konkurrenz bzw. Vereinbarkeit von gleichstellungspolitischen und sozialpolitischen Zielen diskutiert. Und drittens wurden die aktuellen Chancen für solch weitreichende Reformen unter den Bedingungen der aktuellen Haushaltslage des Bundes diskutiert.