Diese Informationen bieten die Grundlage für einen erstmalig im FORUM Jugendhilfe 02/2024 veröffentlichten Artikel und wird stetig aktualisiert.
1 Einleitung und Hintergrund
Die Europäische Garantie für Kinder ist eine Selbstverpflichtung der EU Staaten die Situation von armen und armutsgefährdeten Kinder bis zum Jahr 2030 zu verbessern. In Deutschland erfolgt die Umsetzung durch den Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder“ sowie den begleitenden Umsetzungsprozess.
In der Europäischen Union, einer der reichsten Regionen der Welt, stellt Kinderarmut nach wie vor ein Problem dar. Im Jahr 2022 lag der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Kinder (AROPE-Indikator) in der EU bei 24,7 %. Zwischen den EU-Staaten variieren die Werte allerdings deutlich. Die höchsten Werte weisen Rumänien (41,5 %), Bulgarien (33,9 %) und Spanien (32,2 %) auf, die niedrigsten Anteile Slowenien (10,3 %), Tschechien (13,4 %) und Dänemark (13,8 %). In Deutschland gelten 24,0 % der Kinder unter 18 Jahren als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (Eurostat 2023).
Vor diesem Hintergrund war die Kindergarantie nach verschiedenen Vorstudien, Machbarkeitsstudien und Pilotprogrammen als „Empfehlung (EU) 2021/1004 des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder“ am 14. Juni 2021 verabschiedet worden Diese entfaltet zwar keine Gesetzeswirkung, hat jedoch als Selbstverpflichtung der EU-Mitgliedstaaten eine gewisse politische Verbindlichkeit und bedeutet eine entsprechende Willenserklärung. Die EU-Kindergarantie ist zentraler Bestandteil des Aktionsplans der Kommission zur Europäischen Säule sozialer Rechte von 2017 und ergänzt die umfassende Kinderrechtestrategie. der EU, die im Jahr 2021 veröffentlicht wurde. Zudem hatte die EU-Kommission bereits 2013 die Empfehlung „Investitionen in Kinder: Den Kreislauf der Benachteiligung durchbrechen“ veröffentlicht.
2 Inhalte der EU Garantie für Kinder
Die Kindergarantie benennt als Ziel „soziale Ausgrenzung zu verhindern und zu bekämpfen, indem der Zugang bedürftiger Kinder zu einer Reihe wichtiger Dienste garantiert wird, und dadurch auch einen Beitrag zum Schutz der Kinderrechte durch die Bekämpfung von Kinderarmut und die Förderung von Chancengleichheit zu leisten“. Als „bedürftig“ zählen hier von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohte Kinder und Jugendliche sowie auch Kinder mit spezifischen Formen der Benachteiligung wie zum Beispiel Obdachlosigkeit, Behinderung, Migrationshintergrund, ethnische Diskriminierung oder Heimerziehung.
Zu den „wichtigen Diensten“, deren Zugänglichkeit die Teilhabechancen der armen und vulnerablen Kinder verbessern soll, zählen insbesondere die fünf Felder:
- Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung
- Bildungsangebote und schulbezogene Aktivitäten
- Gesundheitsversorgung
- Gesunde Ernährung und eine gesunde Mahlzeit pro Schultag
- Angemessener Wohnraum
Wie genau die Zugänglichkeit zu diesen „Diensten“ verbessert werden soll bzw. was als Mindestversorgungsgrad angesehen wird, wird in der Kindergarantie weiter spezifiziert. Dabei sind die jeweiligen Ausführungen unterschiedlich umfangreich und die Maßnahmen unterschiedlich konkret. Beispielsweise finden sich so konkrete Maßnahmen wie die Aufforderung an die Staaten, „mindestens eine gesunde Mahlzeit pro Schultag bereitzustellen“ neben abstrakteren komplexeren Empfehlungen „einen Rahmen für die Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen, lokalen Gemeinschaften, Sozial-, Gesundheits- und Kinderschutzdiensten, Familien und Akteuren der Sozialwirtschaft zu entwickeln, um inklusive Bildung und Erziehung zu unterstützen“.
In der vorbereitenden Phase vor der Verabschiedung der Kindergarantie waren auch kulturelle und sportliche Teilhaberechte als Bestandteile der Kindergarantie in der Diskussion. Diese wurden aber nicht in die abschließende Ratsempfehlung übernommen.
Da es unter anderem Ziel ist „die Kohärenz der sozial-, bildungs-, gesundheits-, ernährungs- und wohnungspolitischen Strategien auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu gewährleisten“, sollen die Staaten für die Umsetzung jeweils eine mit angemessenen Ressourcen und einem entsprechenden Mandat ausgestatten nationale Koordinator:in benennen. In Deutschland wurde die Parlamentarische Staatssekretärin im BMFSFJ Ekin Deligöz zur Nationalen Koordinatorin für die Umsetzung der Kindergarantie ernannt.
Eine weitere zentrale Vorgabe ist die Erstellung Nationaler Aktionspläne (NAP), die quantitative und qualitative Ziele ebenso enthalten sollen wie Maßnahmen und Fristen zur Erreichung der Ziele sowie Angaben zu den erforderlichen Finanzmitteln. In den Erarbeitungs- und Umsetzungsphasen sollen u.a. betroffene Kinder und Jugendliche, Bildungseinrichtungen sowie zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligt werden.
Eine Berichterstattung an die Kommission ist in der Kindergarantie vorgesehen. Alle zwei Jahre soll von den Nationalstaaten über die Fortschritte bei der Umsetzung der Kindergarantie und der Nationalen Aktionsplan Bericht erstattet werden.
Für die Umsetzung der Kindergarantie stellt die Europäische Union finanzielle Hilfen für die Mitgliedsstaaten über verschiedene Fonds wie den Europäischen Sozialfonds (ESF und ESF+), den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Europäischen Fonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD) bereit, um Programme und Projekte zur Unterstützung von Kindern und ihren Familien zu finanzieren.
3 Umsetzung der Kindergarantie
Die deutsche Regierung hatte sich vor der Annahme der Kindergarantie unter anderen während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 für die der Verabschiedung der Kindergarantie eingesetzt. Sie initiierte damals eine von fast allen EU-Staaten getragene Deklaration, in der die EU-Kommission zur zügigen Vorlage eines Vorschlags aufgefordert und die Bedeutung einer umfassenden sozialpolitischen Agenda in der Europa-2030-Strategie betont wurde. Die Staaten erklärten ihre Bereitschaft zur Unterstützung der EU-Kindergarantie und betonen ihre Verpflichtung für eine angemessene Umsetzung auf nationaler Ebene. Die Deklaration wurde in einem offenen Brief der COFACE Europe unterstützt.
3.1 Der deutsche Nationale Aktionsplan
Die Bundesregierung legte dann jedoch erst mehr als 1,5 Jahre nach der vorgegebenen Frist ihren Nationalen Aktionsplan (NAP) als einer der letzten sechs Staaten vor. Am 5. Mai 2022 hatte Bundesjugendministerin Lisa Paus den Prozess zum Nationalen Aktionsplan “Neue Chancen für Kinder in Deutschland” gestartet.
Inhaltlich beschreibt der NAP zunächst seine Entstehungsgeschichte. In einem nächsten Schritt stellt er die Ausgangssituation in Deutschland dar und geht dabei auf die auch in der Kindergarantie genannten Themenbereiche ein. Er benennt die Datenlage, beschreibt die Situation hinsichtlich spezifischer Formen der Benachteiligung wie sie in der Kindergarantie benannt werden sowie die Zugangshürden, die sich für armutsgefährdete Kinder zu infrastrukturellen Leistungen, wie zum Beispiel zu Bildung ergeben.
In einem dritten Kapitel werden die verschiedenen politischen Ebenen dargestellt sowie einige grundsätzliche „Politische Strategien zur Vermeidung von Armut und sozialer Benachteiligung“. Hier werden Leistungen wie zum Beispiel Kindergeld, Elterngeld, Digitalisierung von Leistungen und die geplante Kindergrundsicherung aufgeführt.
Auf immerhin 30 Seiten werden die nationalen Herausforderungen hinsichtlich der fünf Handlungsfelder der Kindergarantie dargestellt. Die dargelegten Bedarfe spiegeln das Bild der Herausforderungen wider, wobei auffällt, dass die Bundesregierung die Situationsbeschreibungen von nationalen Expert/innen lediglich referiert. Unklar bleibt, ob die Analysen durch die Bundesregierung in dieser Form auch geteilt werden oder ob es sich nur um eine bloße Darstellung „fremder“ Inhalte handelt.
In den verbleibenden drei Kapiteln beschreibt die Bundesregierung zum Thema Monitoring und Evaluation auf ca. einer Seite, dass sie den Anforderungen nach einem Fortschrittsbericht nachkommen wird. Sie erläutert die geplante Struktur der Umsetzung mit dem NAP-Ausschuss inklusive der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und gibt einen kurzen Ausblick. Der zahlenmäßig weit überwiegende Anteil des Textes befindet sich im Anhang und listet auf 154 Seiten ungefiltert und unkommentiert Einzelmaßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen sowie einzelnen Stakeholdern auf.
Kritik von nationalen Verbänden
Im Zentrum der Kritik des Aktionsplans „Neue Chancen für Kinder“ steht, dass sich neue Ansätze lediglich erahnen lassen. Im Gegenteil: Der NAP stellt klar, dass keine zusätzlichen finanziellen Mittel bereitgestellt werden. In den Stellungnahmen wird bedauert, dass es keine vertiefte Auseinandersetzung mit den Handlungsempfehlungen gibt. Die sehr umfassende Liste über laufende und geplante Maßnahmen wird zwar von einigen als interessant gesehen. Aber deutlich wurde in den Bewertungen auch, dass stattdessen eine kritische Analyse der bisher unzureichenden Armutspolitiken und die Entwicklung einer legislaturperiodenübergreifenden Perspektive sowie das Aufzeigen systematischer Lösungen mit ganzheitlichem Blick und konkreten Schritten sinnvoll gewesen wäre.
Einschätzung der EU-Kommission
Die EU Kommission sieht sich grundsätzlich nur sehr begrenzt in der Rolle, die vorgelegten NAP zu bewerten oder gar abzulehnen. Sie gibt jedoch bilaterale „Observations“ an die Staaten, in wie weit der NAP den erwarteten Standards entspricht. Diese werden im Allgemeinen jedoch nicht veröffentlicht.
Auch zum deutschen NAP hat die EU-Kommission einen solchen Brief verfasst. In ihm wird gewürdigt, dass die Kommissions-Vorschläge zur Struktur des NAP im Wesentlichen aufgegriffen worden seien und dass es eine sehr ausführliche Beschreibung des Entstehungsprozesses zum NAP geben würde. Auch die Kommission erkennt die Auflistung der Maßnahmen in den Anhängen an, stellt jedoch fest, dass es wenige wirklich neue Maßnahmen gibt.
Hinsichtlich der Maßnahmen in den verschiedenen Themenbereichen zeigt die EU-Kommission verhältnismäßig direkt Kritik und bemüht sehr häufig Einschätzungen wie „lange nicht ausreichend“, „möglicherweise nicht ausreichend“, „nicht hinreichend“, „keine spezifischen Maßnahmen“, „nicht ausreichend“, „sehr allgemein“.
Deutlich positiver zeigt sich die Kommission hinsichtlich der Pläne der Bundesregierung zur Einbeziehung von Akteuren. Auch erwähnt sie positiv, dass Deutschland insbesondere zur frühkindlichen Bildung relativ hohe Ausgaben tätigt.
3.2 Der Implementierungsprozess des NAP in Deutschland
Die Umsetzung der Kindergarantie liegt in Deutschland federführend beim Bundesfamilienministerium, nationalen Koordinatorin ist die parlamentarische Staatssekretärin Ekin Deligöz als „Nationale Kinderchancen-Koordinatorin“. Im europäischen Vergleich ist die formale Koordination damit übrigens relativ hoch besetzt. Neben einer Ministerin und zwei stlv. Ministerinnen ist ansonsten stark die Ebene von Direktor:innen/ Abteilungsleiter:innen etc. vertreten. Lediglich in Österreich wurde eine Persönlichkeit aus einer zivilgesellschaftlichen Organisation gewählt.
Die Bundesregierung betont stets, dass der Nationale Aktionsplan mit dem Ziel 2030 ein dynamisches Instrument sei und daher ständiger Entwicklungen und Anpassungen unterliegen würde. Um diesen gerecht zu werden, wurde ein sogenannter „NAP-Ausschuss“ gebildet. Er soll eine Vernetzungs- und Kommunikationsplattform für relevante Akteure aus Bund, Ländern, Kommunen, Zivilgesellschaft und Wissenschaft darstellen und zur Verankerung der Ziele des NAP auf allen föderalen Ebenen sowie in allen Zuständigkeitsbereichen beitragen. Der Ausschuss tagt aktuell zwei mal jährlich. Seine ca. 50 Mitglieder setzen sich ungefähr zur einen Hälfte aus Vertreter/innen aus Bundesressorts, der Länder und Kommunen und zur anderen Hälfte von zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Wissenschaft zusammen. In einem Steuerungskreis sind das BMFSFJ, die JFMK und die kommunalen Spitzenverbände vertreten sowie mit der BAGFW, der AGJ und der AGF auch Organisationen der Zivilgesellschaft. Das Deutsche Jugendinstitut unterstützt den Ausschuss fachlich und organisatorisch mit einer vom BMFSFJ dafür geförderten Service- und Monitoringstelle (ServiKiD).
Bislang haben zwei Sitzungen des Ausschusses stattgefunden, im September 2023 und im März 2024. Auf Vorschlag des BMFSFJ arbeitet der NAP-Ausschuss neben der Begleitung des Monitorings zunächst vor allem an dem Thema „kommunale Armutsprävention“.
Neben dem NAP-Prozess im Ausschuss führt das BMFSFJ thematische Veranstaltungen durch, wie zum Beispiel zur kommunalen Armutsprävention im November 2023 und voraussichtlich im Herbst 2024.
Der Fortschrittsbericht
Die Kindergarantie sieht vor, dass die Staaten alle zwei Jahre einen Fortschrittsbericht erstellen. Gegenüber der EU-Kommission hat die Bundesregierung angekündigt, ihren Fortschrittsbericht verspätet Ende 2024 abgeben zu wollen. Dieses Dokument soll aus mehreren Teilen bestehen: Eine Bestandsaufnahme, in der die aktuellen Entwicklungen von Kinderarmut und sozialer Teilhabe beschrieben werden sowie eine Dokumentation des Prozesses. Diesen Teil wird das DJI in eigener Autorenschaft erarbeiten. Eine AG im NAP-Ausschuss unterstützt das DJI bei der konkreten Ausarbeitung des Indikatorensets. Inhaltliches Schwerpunkthema wird die „kommunale Armutsprävention“ sein. Dafür wurden zwei externe Expertisen erstellt, die Teil des Fortschrittsberichts werden und eine Diskussionsgrundlage für Schlussfolgerungen im NAP-Ausschuss bilden sollen. Auch hier wurde eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern des NAP-Ausschusses sowie externen Expert:innen gebildet.
Zudem wird es eine Stellungnahme der Bundesregierung geben, an den erneut der ausführliche Maßnahmenkatalog der Bundesregierung angehängt wird. Auch sollen die zivilgesellschaftlichen Organisationen die Möglichkeit erhalten, eine gemeinsame Stellungnahme zu verfassen, die einen weiteren Teil des Berichts ausmachen wird, ebenso wie die Ergebnisse der Kinder- und Jugendbeteiligung sowie ggf. weitere Stellungnahmen von Seiten der Kommunen und Bundesländer.
Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
Die Ratsempfehlung zur EU-Kindergarantie sieht ebenfalls die direkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind, vor. Auch im Rahmen des nationalen Umsetzungsprozesses ist dies vorgesehen. Dafür wurde unter Federführung des DJI mit Prof. Dr. Waldemar Stange und dem Institut für Jugendhilfe und Kommunalberatung e.V. ein Konzept entwickelt, das im Laufe der Zeit umgesetzt wird. Für Anfang Juli 2024 ist eine entsprechende Dialogveranstaltung geplant. Zudem wird angestrebt, einen fachlichen Austausch mit den Akteuren des Nationalen Aktionsplans für Kinder- und Jugendbeteiligung des BMFSFJ zu entwickeln, um entsprechende Synergien zu nutzen und Doppelstrukturen zu vermeiden. Neben der direkten Beteiligung wird es weitere Untersuchungen im Rahmen der qualitativen Forschung geben.
3.3 Die Europäische Ebene und andere Staaten
Die EU-Kommission versucht, den Prozess der Umsetzung zu unterstützen, unter anderem durch regelmäßige Kooperationstreffen der für die in den Staaten verantwortlichen Personen. Mittlerweile haben 14 dieser Treffen stattgefunden, das letzte Anfang Mai 2024 im Rahmen einer EU-Ratspräsidentschaftsveranstaltung. Die in dieser Kommissionsperiode letzte Sitzung ist für Ende Juni 2024 geplant. Auch das EU-Parlament begleitet den Prozess mit einer eigens eingerichteten Arbeitsgruppe, die Ende April 2024 ihre letzte Sitzung in dieser Legislaturperiode hatte.
Alle Staaten haben einen NAP veröffentlicht, wenn auch teilweise mit erheblicher Verspätung. In diesen zeigt sich eine hohe Zustimmung zu den Zielen der Kindergarantie. Allerdings lässt sich in der Mehrzahl kaum feststellen, was genau an Neuem angestoßen wurde, wie eine vergleichende Auswertung der AGF zeigt. Viele Aktionspläne fassen nur bestehende politische Maßnahmen und Leistungen neu zusammen. Diese nachträgliche Umetikettierung bereits geplanter oder bestehender Maßnahmen wird von der EU-Kommission zwar als legitim angesehen, widerspricht aber im Grunde der Idee der Kindergarantie. Und manche Aktionspläne kommen ganz ohne geplante Aktionen aus. So berichtet (das für seinen NAP relativ stark kritisierte) Frankreich neben den laufenden Maßnahmen nur noch über Maßnahmen, die umgesetzt werden „sollten“ oder „könnten“. Schweden nennt zwar einige neu geplante Maßnahmen, den größten Teil des sehr ausführlichen Aktionsplans nehmen jedoch die bestehenden Maßnahmen ein. Der belgische Aktionsplan berichtet „derzeit nur die kürzlich eingeführten oder angekündigten Politiken.“
Dass es auch anders gehen kann, zeigt zum Beispiel der Aktionsplan Irlands, der expliziten politischen Willen und eine durchgängige Sprache des Commitments zeigt sowie große Systematik und anspruchsvolle Ziele. Im tschechischen Aktionsplan werden die bestehenden Maßnahmen vor allem hinsichtlich ihrer Lücken und Defizite dargestellt, um daraus Ziele und geplante Maßnahmen abzuleiten. Kroatien, Polen und Spanien haben darauf verzichtet, ihre bisherigen Maßnahmen überhaupt darzustellen, und sich stattdessen auf die geplanten Maßnahmen konzentriert – im Falle Spaniens mit einem sehr umfangreichen, detaillierten und durch 25 Ziele angeleiteten Plan mit 88 Maßnahmen. In ähnlicher Weise präsentiert Bulgarien einen Aktionsplan mit 15 quantifizierten Zielen für 2030 sowie einer Liste zugehöriger Maßnahmen mit Verantwortlichkeiten und Finanzierungsquellen.
Bedauerlicherweise zeigt sich, dass nur wenige Aktionspläne überprüfbare quantifizierbare Zielindikatoren mit festen zeitlichen Zielen formulieren. Dabei scheinen die sehr unterschiedlich ambitionierten Zielvorgaben der Mitgliedstaaten in keinem eindeutigen Zusammenhang mit der Höhe der Armutsrisiken für Kinder zu stehen Die quantifizierten Ziele für 2030 reichen von einer Reduktion der Armutsrisiken für Kinder um 2,4 % bis 68 % (im Durchschnitt ca. 25 %). Irland hat als Ziel angegeben, von Platz 20 in der EU bis 2030 auf Platz 5 zu gelangen, wodurch die Zielerreichung auch von den Entwicklungen der anderen Mitgliedstaaten abhängt.
Die Fortschrittsberichte zu den jeweiligen nationalen Prozessen sollten erstmals Mitte März 2024 bei der Kommission eingereicht werden. Mit ihnen verbindet sich etwas Hoffnung, dass die Ziele und Maßnahmen präzisiert werden. Anfang Mai sind jedoch erst 10 Staatenberichte veröffentlicht. Bedauerlicherweise wurden von diesen 10 Berichten lediglich drei in englischer Sprache veröffentlicht. Eine Prüfung der Berichte durch die EU-Kommission und Stakeholder steht noch aus.
4 Bewertung des bisherigen deutschen NAP Prozesses
Wenn man eine politische Selbstverpflichtung wie der Kindergarantie ernst nimmt und nicht als Beschäftigungsmaßnahme der beteiligten Akteure versteht, muss man überprüfen, welche Effekte sich einstellen. Welche Kriterien kann man für die Bewertung des Prozesses der Umsetzung der Kindergarantie anlegen?
Klar erscheint, dass sich am Ende die politisch Verantwortlichen daran messen lassen müssen, ob der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Kinder gesunken ist. Gut wäre es gewesen, wenn die Bundesregierung sich auf konkrete Zielgrößen festgelegt hätte. Dies wäre objektiv messbar und auch auch wenn die Politik nicht auf alle wirtschaftlichen Faktoren, die die Armutslagen von Kindern beeinflussen, Zugriff hat, so hält sie doch mächtige Instrumente in der Hand. Zum anderen wird zu fragen sein, ob sich die Teilhabechancen verbessert haben. Dies ist deutlich schwieriger zu beurteilen, da sehr unterschiedliche Aspekte des Lebens von Kindern und Jugendlichen betrachtet werden müssen und nicht zu allen teilhaberelevanten Lebenslagedimensionen Daten vorliegen.
Für eine Bewertung bereits während des Gesamtprozesses, kann man u.a. auf folgende Faktoren schauen: Werden zusätzliche, neue Maßnahmen durchgeführt und / oder Strukturen so verbessert, dass positive Effekte für die Kinder vermutet werden können? Erfährt das Thema Kinderarmut und seine Folgen mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit? Werden die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie die gesellschaftlichen Stakeholder effizient in dem Umsetzungsprozess beteiligt? Gelingt es den politisch Verantwortlichen eine kohärente Handlungsperspektive für die föderalen Ebenen zu entwerfen, die über die jeweiligen Legislaturperioden hinausweist?
Die Europäische Kindergarantie und damit auch der NAP und seine Umsetzung zielen auf das Jahr 2030 und auf eine intensive Zusammenarbeit der unterschiedlichen Strukturen. Insofern wird versucht, sich den üblichen Verfahren, die zum einen in Säulen (und damit auch in Konkurrenzen) und in Legislaturperioden funktionieren, zu entziehen. Es gibt bereits andere Beispiele, die mit ähnlichen Ansätzen versuchen, langfristig zwingend notwendige Effekte zu erreichen, wie die nationale Nachhatligkeitsstrategie. An den vergangenen Beispielen lässt sich (leider) auch zeigen, wie schwierig diese Prozesse sind.
Den nun aufgesetzten Prozess zu beurteilen, fällt nach lediglich zwei Sitzungen des NAP-Ausschusses schwer (Stand Juli 2024). Wirklich inhaltliche Auseinandersetzungen haben bislang in Ansätzen nur in den Arbeitsgruppen stattgefunden. Die Herangehensweise, Akteure aus allen Perspektiven und Ebenen einzubeziehen und zu gemeinsamen Erkenntnissen zu kommen, ist zunächst richtig. Auch ist zu erwarten, dass mit der Begleitung durch das Deutsche Jugendinstitut eine wichtige wissenschaftliche Expertise hinzukommt.
Der Knackpunkt für eine erfolgreiche Umsetzung, die spätestens 2030 auch tatsächlich spürbare Verbesserungen der Armuts- und Teilhabe-Indikatoren bei Kindern und Jugendlichen zeigt, liegt jedoch in der grundsätzlichen politischen Prioritätensetzung für das Ziel. Die Verantwortlichkeit eines einzigen Ministeriums für einen solchen ganzheitlichen Prozess macht den Erfolg, auch bei hoher Motivation einzelner Akteure, schwierig, wenn es insgesamt an einer gemeinsamen Zielvorstellung der gesamten Bundesregierung fehlt. Insofern ist die fehlende Unterlegung des NAP-Prozesses mit angemessenen Mitteln zwar für die Zielerreichung sehr hinderlich, wäre aber noch zu verschmerzen, wenn deutlich würde, dass es insgesamt eine entsprechende Prioritätenverschiebung mit entsprechenden Investitionen zu einer besseren Bekämpfung von Kinder- und Familienarmut und der Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung geben würde. Aber genau diese wurde von der Bundesregierung im NAP ziemlich explizit verneint. Umso mehr sind die Akteure, die sich im NAP engagieren – und dazu gehören zu immerhin 50% der Gesamtbesetzung auch die jeweiligen Bundesressorts und Bundesländer – aufgefordert, ihren Beitrag für eine Umsetzung zu leisten. Dafür braucht es dringend eine entsprechende Prioritätensetzung der Bundesregierung und der Bundesländer und in der Folge die entsprechende ehrliche Offenheit, Gesprächs- und Umsetzungsbereitschaft, die Reduzierung von Kinderarmut und ihrer Folgen auch wirklich als gemeinsames Ziel zu begreifen und sich dafür entsprechend einzusetzen. Sollte dies so sein, gibt es zumindest eine Chance, dass – angesichts der Art der Einbettung des Prozesses in die Regierungs-, Ministeriums- und föderalen Struktur – von dem NAP-Prozess ein wichtiger Impuls ausgeht und der Schwanz den Hund zumindest ein wenig in Bewegung bringt.
Weitere Informationen und Links
AGF-Aktivitäten
Die AGF unterstützt die Initiative und begleitet den Prozess auf nationaler Ebene. Unter anderem nähert sie sich mit Diskussionen und Fachgesprächen den einzelnen Themenbereichen und verdeutlicht, was eine Umsetzung in und für Deutschland bedeutet. Bereits 2020 hat die AGF in Zusammenarbeit mit COFACE Families Europe im September zu diesem Prozess ein Europäisches Fachgespräch durchgeführt. 2021 und 2022 erörtert die AGF die einzelnen inhaltlichen Bereiche. 2021 tat sie dies mit zwei Gesprächen zu den Themen “Zugang zu geeigneter Ernährung” (in Kooperation mit der plattform ernährung und bewegung) und “Zugang von Kindern zu kostenloser medizinischer Versorgung und Gesundheitsförderung” (in Kooperation mit dem Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit). Im Frühjahr 2022 fanden weitere Expertengeaspräche zu den Themen “Frühkindliche Betreuung, Bildung, Erziehung und Inklusion” sowie “Angemessener Wohnraum” statt.
Im September 2022 führten COFACE Families Europe und die AGF ein europäisches Fachgespräch durch, auf dem die aktuellen Umsetzungsprozesse in den Staaten diskutiert wurden.
Am 9. Oktober 2024 findet ein weiteres europäisches Fachgespräch in Kooperation mit COFACE Families Europe statt, das insbesondere die Umsetzungsmöglichkeiten auf der lokalen Ebene thematisiert.
Empfehlungen der AGF zur Kindergarantie in Deutschland
AGF-Empfehlungen für den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Kindergarantie in Deutschland
AGF-Fachgespräche zu Themen der Child Guarantee (Berichte)
Fachgespräch zur Europäischen Kindergarantie: Ernährungssituation der Kinder in Deutschland
Europäische Kommission
Download der Europäischen Garantie für Kinder: Empfehlung des Rates zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder
Website der Europäischen Kommission zur Kindergarantie
Kinderrechtsstrategie der Europäischen Kommission (Stand 24. März 2021)
Wichtige Dokumente aus dem Vorbereitungsprozess der Child Guarantee:
Stellungnahme des Ausschuss der Regionen zur Kindergarantie (Obtober 2021)
Stellungnahme der EU Alliance For Investing In Children zur Erstellung der nationalen Aktionspläne (Oktober 2021)
Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Ratsempfehlung zur Einführung einer Kindergarantie (Stand 24. März 2021)
Kinderrechtsstrategie der Europäischen Kommission (Stand 24. März 2021)
Reaktion der COFACE Families Europe auf die Veröffentlichung des Vorschlags der Europäischen Kommission (Stand: 25. März 2021)
FactSheet zur Kindergarantie der Europäischen Kommission (Stand 25. März 2021)
UNICEF Child Guarantee Pilots: The Child Guarantee: Phase III – “Testing the Child Guarantee in the EU Member States”
Deklaration zur Kindergarantie im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft (Dezember 2020)
Offener Brief der COFACE Families Europe an die Europäische Kommission zur Einführung einer Kindergarantie (Dezember 2020)
Perspektiven auf eine europaweite Kindergarantie zur Bekämpfung von Kinderarmut in Europa (Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa)
Machbarkeitsstudie zur Durchführung einer Kindergarantie (Juli 2020)
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