30.8.2021: Fachgespräch „Die EU Child Guarantee und die Förderung der gesundheitlichen Teilhabe von Kindern in Deutschland“

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Moderation des Fachgespräch

Die AGF und der Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit haben am 30. August 2021 in Berlin gemeinsam ein Fachgespräch zur Förderung der gesundheitlichen Teilhabe von Kindern vor dem Hintergrund der „Europäische Garantie für Kinder“ (Child Guarantee) durchgeführt. 25 Expertinnen und Experten aus Familienverbänden, Kinderhilfsorganisationen, der Wissenschaft und dem Fachgebiet Public Health nahmen daran teil.

Die im Juni 2021 von den EU-Mitgliedstaaten beschlossene Child Guarantee hat sich zum Ziel gesetzt, „soziale Ausgrenzung zu verhindern und zu bekämpfen, indem der Zugang bedürftiger Kinder zu einer Reihe wichtiger Dienste garantiert wird, und dadurch auch einen Beitrag zum Schutz der Kinderrechte durch die Bekämpfung von Kinderarmut und die Förderung von Chancengleichheit zu leisten.“ Die Child Guarantee ist dabei eingebettet in die universelle europäische Kinderrechte-Strategie, die am 24. März 2021 veröffentlicht wurde.

Die Child Guarantee definiert arme und armutsbedrohte Kinder in prekären familiären Situationen als „bedürftige“ Gruppe. Aber auch andere Formen der Benachteiligung von Kindern, die eine gesellschaftliche Inklusion und Teilhabe erschweren können, werden von der zielgruppenorientierte Child Guarantee adressiert. Dazu zählen Obdachlosigkeit, Behinderung, Migrationshintergrund, ethnische Diskriminierung und Heimerziehung.

Die Child Guarantee stellt mehrere Themenbereiche in den Vordergrund, zu denen auch die Verbesserung der gesundheitlichen Teilhabe gehört, die im Zentrum des Fachgesprächs stand. 

Dazu formuliert die Child Guarantee folgende Ziele: „Um bedürftigen Kindern einen effektiven und kostenlosen Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung zu garantieren, wird den Mitgliedstaaten empfohlen,

a)    die Früherkennung und Behandlung von Krankheiten und Entwicklungsproblemen, einschließlich solcher im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit, zu erleichtern und den Zugang zu regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen, einschließlich zahn- und augenärztlicher Untersuchungen, sowie zu Früherkennungsprogrammen zu gewährleisten; zeitnahe Folgemaßnahmen der kurativen und rehabilitativen Gesundheitsversorgung sicherzustellen, einschließlich des Zugangs zu Arzneimitteln, Behandlungen und Unterstützungsleistungen, und den Zugang zu Impfprogrammen zu gewährleisten;
b)    gezielte Rehabilitations- und Habilitationsdienste für Kinder mit Behinderungen bereitzustellen;
c)    zugängliche Programme zur Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention für bedürftige Kinder und ihre Familien sowie für Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, einzuführen.

Blick ins Publikum

Die Teilnehmenden diskutierten, was die Child Guarantee für die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von armutsgefährdeten Kindern in Deutschland beitragen kann und wie sie in Deutschland umgesetzt werden sollte. Dazu wurden u.a. folgende Fragen aufgeworfen:

  •  Wie stellt sich die gesundheitliche Situation und Teilhabe von armen Kindern in Deutschland dar.
  • Welche Rahmenbedingungen und Unterstützung für Kinder und Familien braucht es, damit die gesundheitliche Teilhabe von Kindern in vulnerablen Lebenslagen gesichert werden kann?
  • Welche Maßnahmen müssen in Deutschland im Zuge der Child Guarantee ergriffen werden, damit diese Initiative der EU zu einer Verbesserung der gesundheitlichen Lage von Kindern führt?


Vier Vorträge lieferten Impulse für die Diskussion.

Die Child Guarantee und neue Chancen für Kinder in Deutschland

Frau Dr. Kottmann
Dr. Martina Kottmann, Referatsleiterin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Frau Dr. Kottmann erläuterte zunächst die zentralen Empfehlungen der Europäische Garantie für Kinder sowie die aktuellen Pläne des Ministeriums zu deren Umsetzung.

Sie erklärte, dass die „Europäische Garantie für Kinder“ von der Bundesregierung sehr begrüßt worden sei und das BMFSFJ bereits im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 auf eine Verabschiedung hingearbeitet hätte. Die Bundesregierung hatte zum Abschluss der Ratspräsidentschaft eine Deklaration zu Unterstützung der Kindergarantie initiiert, der sich fast alle Mitgliedstaaten angeschlossen haben.


Sowohl die gesundheitlichen Ziele als auch die Empfehlungen / Selbstverpflichtungen in den Bereichen frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung, gesunder Ernährung und angemessenem Wohnraum würden von der Bundesregierung geteilt. Die Ausrichtung auf besondere Zielgruppen unterstütze die Bundesregierung ebenfalls.


Hinsichtlich der praktischen Umsetzung in Deutschland betonte sie, dass das Ministerium derzeit intensiv an einer Arbeitsstruktur zu Umsetzung arbeite. So solle jeder Mitgliedstaat innerhalb von neun Monaten, also bis März 2022, einen nationalen Aktionsplan – ein „Kernstück“ zur Umsetzung der Child Guarantee – erstellen und eine nationale Ansprechperson benennen. Der Aktionsplan wird bis 2030 gültig sein, dazu ist ein zweijährlicher Fortschrittsbericht obligatorisch. Unter den gegebenen Umständen, dass sich die aktuelle Legislaturperiode unmittelbar vor dem Ende befinde und sich nach der Wahl zunächst eine neue Regierung finden müsse, sei es derzeit schwer, bereits inhaltliche Schwerpunkte zu benennen. Ziel sei es, eine wirksame und leistungsfähige Arbeitsstruktur aufzubauen, in der mit themen- und ressortübergreifenden Arbeitsgruppen, in die auch externe Stakeholder eingebunden werden sollen, die angestrebten Ziele erreicht werden können. Dazu solle eine Koordinationsperson berufen werden, die die Impulse der Kindergarantie im politischen Raum vertreten könne.


Deutlich würde jedoch, dass der deutsche Aktionsplan vor allem auf zwei Säulen basieren sollte: Dies sei zum ersten die Stärkung der Familien sowie zum zweiten die entsprechende Infrastruktur. Frau Dr. Kottmann benannte als bereits laufende Aktivitäten des BMFSFJ, die in den Rahmen der Child Guarantee gehörten: Familienhebammen, Kita-Ausbau, Ganztagsbetreuung, Familienbildung, Frühe Hilfen und den Fokus auf Chancengleichheit.


In der Diskussion wurde betont, dass es bei der Umsetzung insbesondere darum ginge, eine ressortübergreifende Zusammenarbeit zu organisieren, um eine Fragmentierung des Prozesses zu verhindern. Dazu gehöre, dass auch Kinder und Jugendliche in den Prozess eingebunden würden. Zudem sei in Deutschland insbesondere bei Bildungsfragen die Länder- und kommunale Ebene relevant, die daher ebenfalls angemessen eingebunden werden müssen.

Des Weiteren wurden Hinweise gegeben, dass es im Bereich der gesundheitlichen Versorgung bereits Ansätze gibt, aus deren Erfahrungen gelernt werden könne und auf die man sich beziehen sollte, zum Beispiel das Netzwerk „Gesund ins Leben“ und das Gesundheitsziel „Gesund aufwachsen: Lebenskompetenz, Bewegung, Ernährung“. Zudem wurde betont, dass ein breiter Gesundheitsbegriff angelegt werden sollte, der armutsbezogene Belastungen in den Vordergrund stellt.

Gesundheitliche Ungleichheiten in jungen Lebensjahren: Gesundheit und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien in Deutschland


Frau Dr. Waldhauer illustrierte mit Daten der amtlichen Statistik und Ergebnissen der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS Welle 2) Zusammenhänge sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland.

Die Daten zeigten, dass die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland gesund aufwachse. Bereits in jungen Lebensjahren bestünden jedoch ausgeprägte gesundheitliche Unterschiede / Benachteiligungen zuungunsten von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien. Da sozial bedingte gesundheitliche Unterschiede nicht nur akut auftreten, sondern sich insbesondere im mittleren und höheren Alter fortsetzen, stellten diese eine große Herausforderung für die Gesundheitsförderung, die gesundheitliche Versorgung und die Gesamtgesellschaft dar.

Frau Dr. Walhauer
Dr. Julia Waldhauer und Petra Rattay, Robert Koch-Institut

Explizit beschrieb Frau Waldhauer die Auswirkungen von Armut bei Kindern und Jugendlichen auf ihre gesundheitliche Situation, aber auch auf ihre materielle Versorgung, ihre sozialen Teilhabechancen und kulturelle Versorgung. Entscheidend sei dabei die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Belastungen. Im Vergleich zu Gleichaltrigen aus nicht finanziell belasteten Haushalten, wiesen armutsgefährdete und arme Kinder und Jugendliche (im Jahr 2019 ca. ein Fünftel aller Heranwachsenden in Deutschland) höhere Risiken für eine schlechtere allgemeine Gesundheit auf, häufiger psychische Auffälligkeiten und häufiger Adipositas. Sie nähmen beispielsweise seltener am Vereinssport teil, wiesen einen häufigeren Konsum von zuckerhaltigen Getränken und eine geringere Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen auf. Wichtig sei es, die Erkenntnisse zum individuellen Gesundheitsverhaltens nicht denunziatorisch gegen die betroffenen Kinder und Jugendlichen bzw. ihre Eltern einzusetzen, sondern nach den Zwängen und Funktionen zu fragen, die einem risikoreichen Gesundheitsverhalten zu Grunde lägen. Es sei ein sehr schmaler Grat zwischen Benennen von Ungleichheiten und dem Stigmatisieren der Betroffenen.


Zu beobachten sei, dass durch die Covid-19 Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung des Ausbruchgeschehens eine Ausweitung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten erfolgt sei.


In der Diskussion wurde u.a. nach der Robustheit der Ergebnisse gefragt. Frau Dr. Waldhauer wies darauf hin, dass es sich bei den Ergebnissen zum Zusammenhang von sozioökonomischem und gesundheitlichen Status um sehr robuste Effekte handle, die auch durch viele internationale Studien bestätigt würden.


Aus dem Publikum wurde angemerkt, dass der Zusammenhang von Armut und Gesundheit im politischen Diskurs nach wie vor unterbelichtet sei und daher die Fokussierung der Child Guarantee explizit auf den Kontext „Armut“ entscheidend sei. Bei dem zu formulierenden nationalen Aktionsplan müsse dies unbedingt stark akzentuiert werden. Es müsse allerdings auch der komplexe Zusammenhang von Armut und Bildung mit gesundheitlichen Aspekten differenziert beachtet werden, ebenso, dass Menschen mit Migrationsgeschichte und Alleinerziehende in Deutschland ein besonders hohes Armutsrisiko aufweisen, wenn zielgenaue Maßnahmen entwickelt werden sollen.

Health in All Policies (HiAP) bei Kindern, Jugendlichen und Familien

Prof. Dr. Geene stellte in seinem Vortrag den Health in All Policies–Ansatz (HiAP) als Strategie zur Verbesserung der (gesundheitlichen) Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen vor. Politische Maßnahmen, die auf einen fragmentierten und verkürzten Gesundheitsbegriff aufbauten, seien nicht in der Lage, Antworten auf die komplexen Wechselwirkungen von sozialer Lage, öffentlichen Gütern und gesundheitlicher Situation zu reagieren. An den Beispielen mehrerer erfolgreicher politischer Prozesse der Implementierung von Health in All Policies arbeitete er Grundanforderungen an eine gesundheitsfördernde Politik heraus, die auch bei der Child Guarantee zu berücksichtigen seien.

Herr Prof. Dr. Geene
Prof. Dr. Raimund Geene, Berlin School of Public Health

Er stellte dazu die gut evaluierten HiAP-Modelle des australischen Bundesstaats South Australia und der sogenannten „Marmot Cities“ in Großbritannien vor, bei denen es jeweils um den Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten und die gerechtere Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen für Gesundheit ging.

Für eine erfolgreiche Umsetzung der Ziele der Child Guarantee könne man aus den Beispielen einige grundlegende Anforderungen ableiten: Zum einen müsse eine Initiative zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancen von Kindern eine Doppelstrategie verfolgen, die Regierungs- und politische Aktivitäten („whole-of-government“) mit gesellschaftlichen Initiativen („whole-of-society“) zur Verbesserung der Kindergesundheit und Armutsbekämpfung verknüpft.

Damit müsse die Schaffung von Austausch- und Kooperationsplattformen einhergehen, die eine weitgehende Beteiligung der Zielgruppen und ihrer Familien sowie zivilgesellschaftlicher Ansätze ermöglichen. Zum anderen bedürfe es in der politischen Umsetzung dringend einer besseren interministeriellen Zusammenarbeit mit interministeriellen und multidisziplinären Steuerungsgruppen sowie gemeinsamen sektorenübergreifenden Haushalten für diese Zielstellungen. Ferner brauche es eine koordinierte Entwicklung des Fachkräfteangebots für die Gesundheitsförderung bei Familien/Kindern. Defizite beim Vorhandensein von kleinräumigen handlungsleitenden Daten müssten jeweils vor Ort abgebaut werden.


Insgesamt handele es sich um ein sensibles Feld, in dem der Widerspruch zwischen Unterstützung und sozialer Kontrolle im Blick behalten werden müsse.
Zur Methodik verwies Geene auf den Kinderrechte-Index des Deutschen Kinderhilfswerks von 2019, eine indikatorengestützte Bestandsaufnahme und Rechtsanalyse zu den Kinderrechten in den Bundesländern.


In der Diskussion wurde die Notwendigkeit der Verbesserung der Datenlage zur kleinräumigen Planung und Evaluierung gesundheitsfördernder Maßnahmen betont.

Es wurde kontrovers diskutiert, ob sich mit der Child Guarantee ein „window of opportunities“ für eine grundlegende Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Kindern aus armen oder armutsgefährdeten Familien öffne. Auch Prozesse wie beispielsweise die Erarbeitung des Gesundheitsziels „Gesund Aufwachsen“ hätten hohe Erwartungen geweckt. Gerade die formulierten hohen Anforderungen an eine neue interministerielle und politik-zivilgesellschaftliche Kooperationskultur seien nur mit einem größeren politischen Gestaltungswillen nach der Bundestagswahl zu erreichen.

Versorgung von Kindern und Jugendlichen in den Frühen Hilfen

Frau Dr. Löchner legte in ihrem Vortrag zwei Schwerpunkte. Zum einen untersuchte sie anhand aktueller Studien die Belastungen, die innerhalb von Partnerschaften / Familien bei der Geburt von Kindern auftreten, und zeigte Risikofaktoren für psychosoziale, gesundheitliche und Entwicklungsprobleme bei Kinder im Lebenslauf auf.

Frau Dr. Löchner
Dr. Johanna Löchner, Deutsches Jugend-Institut (DJI)

Dabei bezog sie sich auf die Prävalenzstudienfolge „KID 0-3“ des DJI (Hauptstudie 2015, nächster Untersuchungsdurchgang 2022). Zum anderen beschrieb sie die Besonderheiten der Angebote der Frühen Hilfen, deren Inanspruchnahme durch Eltern und die Effekte der Interventionen.

Sie wies darauf hin, dass der Übergang zur Elternschaft eine große Herausforderung für alle Eltern bedeute. Allerdings seien nicht alle Eltern in ähnlichem Maße von den damit einhergehenden Anpassungsanforderungen gestresst. Wo hohe Stressniveaus aufträten, seien dies aber bedeutende Risikofaktoren für psychosoziale, gesundheitliche und Entwicklungsprobleme der Kinder im späteren Leben. Wichtige Risikofaktoren für psychische Auffälligkeiten von Kinder und Jugendlichen seien beispielsweise Armut und Bildungsbenachteiligung, Trennung der Eltern, Konflikte zwischen Eltern, häusliche Gewalt, psychische Erkrankungen der Eltern und eine Behinderung des Kindes. Es sei aber nicht primär das Auftreten einzelner Risikofaktoren, sondern deren Kumulation, die die kindliche Entwicklung bis ins Erwachsenenalter beeinträchtigten.

Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung seien u.a. Bildung und eine gute finanzielle Situation der Familie und ein feinfühliges, elterliches Fürsorgeverhalten.  

Die Frühen Hilfen legten ihren Fokus auf universelle und selektive Prävention bei Säuglingen und Kleinkindern, auf die Früherkennung von familiären Belastungen und Risiken für das Kindeswohl sowie auf die frühzeitige Unterstützung der Eltern zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenz. Sie bildeten damit ein Arbeitsfeld an Schnittstelle von Gesundheitswesen, Jugendhilfe, Schwangerschaftsberatung Frühförderung und Armutsfolgenvermeidung.

Frau Dr. Löchner berichtete von einer hohen Nutzung universeller Präventionsprogramme über alle Gruppen hinweg. Die universellen Angebote der Frühen Hilfen erreichten Familien unabhängig vom ihrem jeweiligen Belastungstyp. Die Nutzung zielgruppenspezifischer selektiver Angebote erfolge in besonderem Maße durch hoch mehrfach belastete Familien. Allerdings würden Familien mit erhöhtem elterlichen Stress und Konfliktpotenzial die selektiven Angebote der Frühen Hilfen nicht im erwartbaren Maß in Anspruch nehmen.

Diese Gruppe erhalte auch nur seltener ein Angebot von Hausbesuchsprogrammen. Trotz hoher Kenntnisse über selektive Präventionsangebote nutzen sie diese Angebote seltener als sozioökonomisch und mehrfach belastete Familien. Dies werfe die Frage auf, ob Familien mit erhöhtem elterlichen Stress- und Konfliktpotenzial zu wenig Unterstützung erhielten, weil sie keinen klar erkennbaren (materiellen) Hilfebedarf hätten.

In der Diskussion wurde die Bedeutung der Forschung im Bereich der frühkindlichen Belastungen wie der Wirksamkeit von Maßnahmen der Frühen Hilfen für die Bestimmung prioritärer Handlungsbedarfe wie für die (Weiter-)Entwicklung von unterstützenden Interventionen betont. Der Fachkräftemangel schränke dabei nicht nur die Versorgung belasteter Familien ein, sondern auch die Möglichkeiten, partizipative Forschungsansätze umzusetzen.

Ferner wurde angemerkt, dass in sogenannten Multiproblem-Familien häufig negative Erfahrungen mit sozialstaatlichen Hilfeangeboten vorlägen, die auf die Frühen Hilfen projiziert würden. Positive Lernerfahrungen und gut ausgebildete, sensible Fachkräfte seien hier extrem wichtig.

Abschlussdiskussion und Fazit

In der abschließenden Diskussion wurde festgehalten, dass die Child Guarantee grundsätzlich wichtige Teilhabedefizite von armen und armutsbedrohten Kinder sowie Kindern, die aus anderen Gründen von Ausgrenzung betroffen sind, aufgreife. Der Blick auf die gesundheitsbezogenen Ziele der Child Guarantee zeige, dass diese in Deutschland noch lange nicht verwirklicht seien. Und dies sei der Fall, obwohl die von europäischen Rat vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation von Kindern zu einem größeren Teil in Deutschland formal bereits umgesetzt seien.

Der Fokus der Child Guarantee auf die Verringerung von Teilhabedefiziten von benachteiligten Kindern wurde unterschiedlich bewertet. Die Verbesserung ihrer Teilhabechancen sei ein bedeutendes Vorhaben, das die Lebenssituationen der Betroffenen nachhaltig verändern könne. Auf der anderen Seite dürfe man neben dem Ziel der Abmilderung von Armutsfolgen die eigentliche Armutsbekämpfung nicht vergessen. Im Rahmen der Umsetzung der Child Guarantee müssten die Ursachen von Kinderarmut und Bildungsarmut grundsätzlich in den Blick genommen werden. Kinderarmut sei u.a. eine Folge der Armut von Familien. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung zeige, dass insbesondere nach Trennungen von Eltern ein deutlich erhöhtes Risiko für die Mütter und Kinder bestehe, in Armut oder in armutsnahen Soziallagen leben zu müssen.

Darüber hinaus sei es jedoch wichtig, weitere von Teilhabe ausgeschlossene Gruppen von Kindern zu identifizieren und für diese Maßnahmen zu entwickeln. Neben den in der Child Guarantee genannten Gruppen wie Kinder in Obdachlosigkeit, mit Behinderung, mit Migrationshintergrund, aus ethnischen Minderheiten oder in Heimen lebende Kinder seien dies zum Beispiel auch Kinder in Asylverfahren bzw. mit unsicherem Aufenthaltsstatus, Trans-Kinder u.a.

Um negative Erfahrungen von benachteiligten Kindern /Familien mit den Hilfesystemen zu vermindern, sei darüber hinaus die Sensibilisierung der (gesundheits-)relevanten professionellen Akteure für eigene armutsdiskriminierende Verhaltensweisen notwendig. Es müsse in den Ausbildungen der einschlägigen Berufsgruppen stärker berücksichtigt werden, die Fähigkeiten der Perspektivübernahme und ressourcenorientierte Haltungen zu fördern.

Insgesamt müsse im Prozess der Umsetzung der gesundheitsbezogenen Ziele der Child Guarantee in Deutschland darauf geachtet werden, dass ein weiter Gesundheitsbegriff im Sinne der Ottawa Charta zur Grundlage genommen werde. Es brauche innerhalb der Regierungsaktivitäten ressortübergreifende Strukturen, die durch kooperatives Denken und Handeln geprägt sind und eigene Budgets für die Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Zielgruppen zur Verfügung haben. Dabei sei eine konstruktive Zusammenarbeit von Bundes-, Landes- und kommunalen Strukturen notwendig.

Neben dem Regierungshandeln sei es entscheidend, dass zivilgesellschaftliche Akteure und Verbände sowie betroffene Kindern und ihre Familien in einen partizipativen Prozess zur Entwicklung der Maßnahmen einbezogen würden.

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