22.06.2012: Europäisches Fachgespräch zur Familienzusammenführung

Am 22. Juni 2012 diskutierten anlässlich der aktuellen europäischen Debatte Expert/innen aus Politik, Verwaltung, Verbänden und Wissenschaft über die EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung aus Sicht der Familien. Die Ergebnisse und Fazit sowie die Gesamt-Dokumentation des Gesprächs sind nun erschienen.

Die Gesamt-Dokumentation enthält folgende Abschnitte:

  • Hintergrund
  • Ergebnisse und Fazit
  • Familienzusammenführung in Deutschland
  • Familienzusammenführung in Österreich und den Niederlanden
  • Der Europäische Konsultationsprozess

Die Teile “Hintergrund” sowie “Ergebnisse und Fazit” sind unten einzusehen, die komplette Dokumentation kann als .pdf heruntergeladen werden:

Weiterführunde Links:

Auszüge der Dokumentation:

Hintergrund des Fachgesprächs

Familien mit Angehörigen, die aus Nicht-EU-Staaten stammen, sind den europäischen Regelungen zur Familienzusammenführung unterworfen. Die entsprechende EU-Richtlinie bestimmt, unter welchen Bedingungen der Nachzug von Angehörigen aus Drittstaaten in die EU erfolgen kann. Sie verfolgt das Ziel, die Familienzusammenführung in der EU zu erleichtern und bestehende Familienbande aufrechtzuerhalten. Damit soll nicht nur sozio-kulturelle Stabilität geschaffen und die Integration im Zuwanderungsland erleichtert, sondern auch ein Familienleben ermöglicht werden, wie es für die meisten Familien selbstverständlich ist. Die Richtlinie zur Familienzusammenführung betrifft

  • Nicht-EU-Staatsangehörige („Drittstaatsangehörige“), die in einem EU-Staat leben und ihre Familie nachziehen lassen möchten sowie
  • in einigen EU-Mitgliedstaaten auch eigene Staatsangehörige, die noch nicht von dem Recht auf EU-Freizügigkeitsregelungen Gebrauch gemacht haben und Familienangehörige aus einem Drittstaat nachziehen wollen.

Familiäre Gründe sind für die Einwanderung ein zentraler Aspekt. Für Deutschland ist der Zuzug über die Familienzusammenführung einer der wichtigsten Einwanderungsgründe. Etwa 23 Prozent der gesamten Einwanderung resultieren aus dem Familiennachzug. Dieser Trend ist jedoch rückläufig, nicht zuletzt durch Parallelentwicklungen wie etwa der Erweiterung der EU. Unter Berufung auf die geltenden europäischen Bestimmungen wurde 2007 das Zuwanderungsrecht in Deutschland novelliert. Die seither für den Nachzug erforderliche deutsche Sprachprüfung stellt viele Familien vor hohe Hürden. Paare sind dadurch gezwungen, längere Zeit voneinander getrennt zu leben, oftmals auch, wenn sie Kinder haben. Auch für Großeltern aus Nicht-EU-Staaten ist es nahezu unmöglich, sich um ihre Enkel in Deutschland zu kümmern oder im Umfeld ihrer Kinder gepflegt zu werden. Denn Großeltern gehören laut deutscher Rechtslage nicht zum Kern der Familie und können nur in besonderen Härtefällen nachgezogen werden. Auch in anderen Staaten werden die nationalen Regelungen unter anderem von NGOs und Wissenschaft häufig als massiver Eingriff in das unveräußerliche Recht auf Familienleben kritisiert. Umgekehrt fordern die Regierungen einiger Mitgliedstaaten restriktivere europäische Regelungen. Daher, und weil die europäische Richtlinie in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich interpretiert wird, hat die EU Kommission zu einer Diskussion der geltenden Richtlinie aufgerufen, in deren Rahmen bereits für die Mitgliedstaaten, NGOs und weitere Interessierte Gelegenheit bestand, Position zu beziehen.
Das Fachgespräch Familienzusammenführung knüpfte an diese Debatten an. Vertreter/innen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft sowie von europäischen Verbänden diskutierten die Anwendung der Familienzusammenführung in den Mitgliedstaaten, deren Folgen für Familien und den notwendigen Handlungsbedarf.

Anlässlich der aktuellen Debatte auf EU-Ebene führte die AGF ein Fachgespräch zum Recht auf Familienzusammenführung durch. Besonderes Augenmerk fand dabei die Situation in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Die Auslegung der EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung in diesen Mitgliedstaaten wurde von den Teilnehmer/innen weitreichend kritisiert.

Das Fachgespräch zum Thema Familienzusammenführung fand am 22. Juni in den Räumen der Deutschen Gesellschaft am Potsdamer Platz in Berlin statt. Die geladenen Expert/innen aus Wissenschaft, Politik sowie von Familien- und Migrationsverbänden diskutierten dabei die Ausgestaltung der geltenden Nachzugsregelungen in den EU-Mitgliedstaaten sowie deren Auswirkungen auf die Familien.

Die Vorträge zur Situation insbesondere in Deutschland, Österreich und den Niederlanden machten deutlich, dass nach wie vor in erster Linie die migrationsskeptische Haltung der Politik über die Regelungen zum Familiennachzug bestimmt – und nicht die Bedürfnisse der betroffenen Familien.

Dies stieß bei den Teilnehmer/innen auf deutliche Kritik. Debattiert wurde insbesondere über vor der Einreise zu erbringende Integrationsleistungen wie den Erwerb von Sprachkenntnissen im Heimatland, da diese die Zusammenführung von Familienmitgliedern verzögern oder gar verhindern. Hinterfragt wurde auch die fehlende Anerkennung der Pluralität von Familienmodellen bei Paaren und Familien mit ausländischen Partnern. Anders als gegenüber inländischen Familienbeziehungen würden beim Familiennachzug häufig traditionelle Familienbilder zugrunde gelegt, die vor allem die eheliche Kernfamilie von Mann, Frau und Kindern berücksichtige. Hier mahnten die Teilnehmer/innen zu mehr Realitätsbezug.

Für die europäische Ebene zeichnete sich im Fachgespräch die Tendenz ab, dass die EU-Kommission ergänzende Erläuterungen für die aktuelle EU-Richtlinie befürwortet, um dem Ziel der Förderung der Familienzusammenführung Nachdruck zu verleihen. Zahlreiche Verbände und Organisationen hatten bereits im Mai einen Aufruf zur Erleichterung der Zusammenführung von Familien unterzeichnet und die Frage nach dem Umgang mit Verstößen gegen die Richtlinie seitens der Mitgliedstaaten aufgeworfen. Im Rahmen des Fachgesprächs wurde auch nach Ideen gefragt, wie eine eventuelle Ahndung aussehen könnte.

Ergebnisse und Fazi

Familienperspektive muss im Vordergrund stehen    
Familien haben ein Recht auf Familienzusammenführung. Ihnen soll ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden. Dafür muss ihre Perspektive in den Vordergrund gestellt werden.


Zunahme der restriktiven Regelungen    
Insgesamt gibt es in den EU-Staaten einen Trend zu weiteren Restriktionen. Deutschland, Österreich und die Niederlande sind Vorreiter dafür. Familienzusammenführung wird zunehmend mit Missbrauch verknüpft, was zu Zuwanderungs- kontrollen und Integrationsforderungen führt.


Befürchtungen hinsichtlich Quantität und Integration    
Familienzusammenführung wird oft als problematische, weil nur wenig steuerbare, Zuwanderung aufgefasst. Problematisiert werden vor allem die vermuteten sozio-ökonomischen Merkmale der nachziehenden Angehörigen, Integrationsprobleme sowie die Quantität des Familiennachzugs.


Negative Einzelfälle als Maßstab für Restriktionen    
Subtile Ängste hinsichtlich des Missbrauchs führen zur Verallgemeinerung von Einzelfällen zu Lasten der Familien. Studien belegen jedoch keinen Missbrauch, sondern deuten nur auf einige sehr wenige Verdachtsfälle hin.


Enger Familienbegriff    Der Familienbegriff ist eingeschränkt, so dass in der Regel Geschwister, Großeltern und Enkel vom Nachzug ausgenommen sind. Die Erweiterung des Familienbegriffs im Inland findet im Aufenthaltsrecht keine Entsprechung.


Paare werden zur Ehe gedrängt und dann der Scheinehe verdächtigt    
Die Realität der Familienkonstellationen wird kaum berücksichtigt. Das Zusammenleben ohne Trauschein und andere Familienformen werden nicht berücksichtigt. Stattdessen ist die Ehe Voraussetzung des Nachzugs, wodurch Paare oft zur Eheschließung genötigt werden, um zusammenleben zu dürfen – und anschließend dem Verdacht der Scheinehen ausgesetzt sind.


Einige Vorwürfe gegenüber den Familien werden durch die Nachzugsregelungen produziert und verstärkt    
Traditionelle Rollen- und Familienbilder sowie innerfamiliäre Abhängigkeiten werden durch die Umsetzungspraxis der nationalen Regelungen begünstigt und gleichzeitig den Einwanderern vorgeworfen.


Frauen besonders benachteiligt    
Insbesondere Frauen werden durch restriktive Regelungen benachteiligt. Feh- lende Betreuungsmöglichkeiten für Kinder erschweren den weiblichen Migran- tinnen zusätzlich die Teilnahme an den geforderten Integrations- und Sprach- kursen. Notwendig ist daher eine geschlechtsspezifische Analyse.


Vorab-Sprachtests sind äußerst umstritten    
Verpflichtende Vorab-Sprachtests werden von Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Großbritannien genutzt. Es sind juristisch und politisch die um- strittensten Maßnahmen. Integrationskurse nach der Einreise sind dagegen vom Grundgedanken her allgemein anerkannt.


Weitere Untersuchungen nötig    
Welche Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen gegen die Richtlinie sinnvoll und praktisch umzusetzen sind und welche Verstöße im Detail vorliegen, muss weiter untersucht werden. Die Motive für die restriktiven Anwendungen der Richtlinie müssen insgesamt noch besser untersucht und von den NGOs stärker thematisiert werden.


Richtlinie interpretieren statt neu aushandeln    
In den europäischen Diskussionen zeichnet sich eine starke Tendenz gegen eine
Neudiskussion der EU-Richtlinie und für Auslegungshinweise ab.