09. Oktober 2023: Fachgespräch der AGF: „Konzepte für eine bessere Zeitpolitik“

Am 09. Oktober veranstaltete die AGF ein Fachgespräch, in dem verschiedene Konzepte für eine bessere Zeitpolitik für Familien diskutiert wurden. Zunächst wurden neue Daten zu den Wünschen von Eltern hinsichtlich des Umfangs von Sorge- und Erwerbsarbeit und deren Verteilung in der Partnerschaft sowie zur tatsächlichen Zeitverwendung von Vätern und Müttern mit kleinen Kindern präsentiert. Anschließend wurde das „Optionszeitenmodell“ vorgestellt und konzeptionelle Überlegungen der AGF-Mitgliedsverbände zur Weiterentwicklung einer lebensphasenorientierten Zeitpolitik diskutiert.

Vorstellung der aktuellen FReDA-Daten 2023 zu Zeitwünschen von Familien
Leonie Kleinschrot, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und Deutsches Jugendinstitut (DJI)
(Präsentation Kleinschrot)
Leonie Kleinschrot stellte die Zeitwünsche und Zeitrealitäten von Familien anhand aktueller Daten des FReDA (Familiendemographisches Panel) gegenüber (siehe Link Präsentation). Sie betonte, dass in älteren Studien bereits mehrfach der langfristige Wandel der Geschlechterrollenvorstellungen in Deutschland beschrieben worden sei, der sich u.a. in einer im Zeitverlauf positiveren Bewertung der mütterlichen Erwerbstätigkeit bei Kleinkindern ausdrücke. Auch die Zustimmung zu der Auffassung, dass der Mann voll erwerbstätig sein und die Frau zu Hause bleiben und sich um Haushalt und Kinder kümmern sollte, sei im Vergleich zu früheren Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. In Ostdeutschland stimmten dem nur noch 5 % der Frauen und 10 % der Männer zu, in Westdeutschland seien es noch 17 % bzw. 23 %.

Ob sich die veränderten Vorstellungen auch in einem veränderten Erwerbsverhalten der Eltern niederschlagen, sei nicht eindeutig zu beantworten. Zwar seien die Erwerbsquoten von Müttern in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Nach wie vor dominierten jedoch bei fast drei Vierteln der Eltern Konstellationen, in denen der Vater vollzeit- und die Mutter teilzeiterwerbstätig sei, wobei in etwa der Hälfte dieser Konstellationen die Mutter weniger als 20 Stunden arbeite. Dies sei im Wesentlichen unabhängig vom Alter des jüngsten Kindes. Eltern wiesen insgesamt eine hohe Belastung durch Erwerbs- und Betreuungsarbeit auf und die Hälfte von ihnen fühle sich entsprechend unter Zeitstress.

Die FreDA-Daten zeigten, dass die elterlichen Erwerbswünsche der Mütter von durchschnittlich etwa 20 Stunden pro Woche, wenn das jüngste Kind 2 Jahre alt ist, langsam auf nahezu Vollzeitniveau ansteigen, wenn das jüngste Kind 18 Jahre alt ist. Auch bei den Männern sei ein Anstieg mit zunehmendem Alter der Kinder zu beobachten, allerdings liege die durchschnittliche Wunscharbeitszeit von Vätern mit zweijährigen Kindern bereits bei fast 35 Stunden. Erstaunlicherweise würden sich die Idealvorstellungen über den Umfang der Erwerbsarbeitszeit zwischen den befragten Vätern und Müttern kaum unterscheiden. Dies stehe im Widerspruch zu den häufig geäußerten Wünschen nach einer sehr gleichmäßigen Aufteilung von Erwerbs- und Betreuungsarbeit zwischen den Geschlechtern. Zudem zeigten die FreDA-Daten, dass die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und idealer Arbeitszeit bei Müttern ausgeprägter ist als bei Vätern.

Dementsprechend stehe bei den von den Eltern genannten Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Betreuungsarbeit die Flexibilisierung ganz oben auf der Wunschliste. An zweiter Stelle würde von den Männern „weniger arbeiten“ genannt, dies käme bei den Frauen erst an neunter Stelle. Mütter und Väter wünschten sich weitere Maßnahmen zur Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeiten, eine insgesamt stärkere Familienorientierung der Unternehmen sowie eine Stärkung der Infrastruktur für Familien zur Entlastung der Eltern.

Vorstellung des Optionszeitenmodells
Dr. Karin Jurczyk, Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik e.V., Berlin/München

(Präsentation Jurczyk)
Zeit gilt als entscheidende Voraussetzung für ein gelingendes Familienleben und Studien zeigen, dass Familien aller sozialen Schichten über Belastungen durch Zeitmangel klagen. Zeitkonflikte zwischen familialer Sorgearbeit, Erwerbsarbeit, aber auch dem Bedürfnis nach „Zeit für sich selbst“ können im gesamten Familienleben auftreten, also nicht nur, wenn kleine Kinder im Haushalt leben, sondern beispielsweise auch, wenn pflegebedürftige Angehörige versorgt werden müssen.

Referentin Dr. Karin Jurczyk
Referentin Dr. Karin Jurczyk


Karin Jurczyk betonte, dass Zeitprobleme für die Geschlechter unterschiedlich sind. Mütter seien seit langem mit der Erwartung konfrontiert, schnell wieder in den Beruf zurückzukehren, ohne dass sich andererseits die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Fürsorge verändert hätte. Die sozialstaatliche Rahmung von Erwerbsarbeit, die sich allein am Modell des männlichen Erwerbsverlaufs – mit dem Leitbild des „von Sorgearbeit freigestellten“ männlichen Ernährers – orientiert, und die Vernachlässigung von Sorgearbeit führten nach wie vor zur „Bestrafung“ von Erwerbsunterbrechungen oder Arbeitszeitreduzierungen. Der Versuch, die widersprüchlichen Anforderungen von Erwerbsarbeit und Familie zu vereinbaren, führe zu Sorgelücken, Zeitnot und Überforderung.

Die sozialstaatliche Rahmung des Lebenslaufs dürfe sich nicht nur auf die Erwerbsarbeit im Erwachsenenalter konzentrieren, sondern müsse die Sorgearbeit als gesellschaftliche Aufgabe gleichberechtigt berücksichtigen. Das von ihr gemeinsam mit Prof. Mückenberger entwickelte Optionszeitenmodell biete einen Ansatzpunkt für den Umbau hin zu einer lebenslauforientierten und geschlechtergerechten Familienzeitpolitik.
So solle das insgesamt neunjährige Optionszeitbudget insgesamt sechs Jahre für familiale Care-Arbeit, zwei Jahre für die persönliche berufliche Weiterbildung und ein Jahr für die Selbstsorge enthalten.
Die 6 Jahre für unterschiedliche private und gesellschaftliche Care-Aufgaben sollten flexibel verteilt und während des gesamten Erwerbslebens in Anspruch genommen werden können. Sie seien ausschließlich für Pflegeaufgaben – auch im Rahmen der Pflege von „Wahlverwandten“ – reserviert und würden verfallen, wenn sie nicht in Anspruch genommen werden.

Das Optionszeitenmodell sieht einen Ausgleich für den Wegfall von Erwerbseinkommen und Rentenbeiträgen etc. vor. Je nachdem, ob es sich um Optionszeiten für Pflege, Weiterbildung oder Selbstpflege handele, würde ein unterschiedlicher Finanzierungsmodus vorgeschlagen. Hier schlug Frau Jurczyk vor, dass der Staat bzw. die öffentlichen Hand die Finanzierung eines Lohnersatzes übernehmen sollte, wenn bei der Wahrnehmung einer Optionszeit um die Erfüllung öffentlicher Interessen, wie Kinderbetreuung, Angehörigenpflege oder freiwilliges soziales Engagement geht. Die Unternehmen sollten an den Kosten einer Optionszeit durch Entgeltfortzahlung beteiligt werden, wenn darin berufliche Qualifikationen erworben werden oder andere den Betrieben bzw. der Wirtschaft Nutzen entstehen. Wo es sich ausschließlich um die eigenen Interessen der Arbeitnehmer:innen geht, sollte die Optionszeit durch Ersparnisse und Kreditaufnahme finanziert werden.

Frau Jurczyk sieht in dem Optionszeitenmodell einen Beitrag zur Diskussion über die notwendige Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zur Bewältigung der Care-Krise und zur Förderung einer gerechteren Verteilung von Care-Arbeit. Eine Konkretisierung des Modells und seine Umsetzung erfordere nun aber auch das Wissen weiterer Akteure. Diese einzubeziehen, sei Ziel des jetzt beginnenden Projekts der Optionszeitenlabore, in denen unterschiedliche Akteure ihre Kompetenzen in die Entwicklung von Umsetzungsperspektiven einbringen sollen.

Einschätzungen der AGF-Mitgliedsverbände
Die AGF-Mitgliedsverbände berichteten vom aktuellen Stand ihrer zeitpolitischen Diskussionen. So wies das Svenja Kraus von der evangelischen arbeitsgemeinschaft familie (eaf) auf ihr im letzten Jahr vorgestelltes Konzept der „Dynamischen Familienarbeitszeit“ (https://www.eaf-bund.de/sites/default/files/2022-12/221212_Auszug_FPI_4_2022.pdf) . Dies beziehe sich auf Eltern mit Kindern vor dem schulpflichtigen Alter, da hier von der eaf der größte zeitpolitische Handlungsbedarf gesehen werde. Ziel des Konzeptes sei es, die partnerschaftliche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit zwischen Vätern und Müttern zu fördern. Die Dynamische Familienarbeitszeit ziele nicht primär darauf, Eltern mit kleinen Kindern in vollzeitnahe Tätigkeiten zu bringen, sondern möchte die Zeitverwendungswünsche von Müttern und Vätern in den Vordergrund stellen und die Diskrepanz zu den gelebten Zeitverwendungsmustern verringern.

Matthias Dantlgraber berichtete, dass sich die zeitpolitische Diskussion im Familienbund der Katholiken (FDK) nach Modellen suche, die allen Familien gerecht werden. Es müsse auch für Familien, die eine klassische asymmetrische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern präferieren, zeitpolitische Entlastungsmaßnahmen geben. Dafür dürfte es kein starres Leitbild in der Gesetzgebung hinsichtlich der Aufteilungen der innerfamiliären Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit geben. Der FDK setze sich daher u.a. für eine stärkere Anerkennung der Sorgearbeit in den Sozialversicherungen und der Rente ein. Zeitpolitische Modelle müssen seiner Meinung nach auch Angebote für Familien, mit dem Wunsch nach einer traditionellen Arbeitsteilung, beinhalten.

Maria Ringler vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf berichtete, dass es in ihrem Verband noch kein ausformuliertes zeitpolitisches Modell gebe. Im vorgestellten Optionszeitenmodell fänden sich jedoch viele Übereinstimmungen mit grundsätzlichen Perspektiven der iaf hinsichtlich der Lösungen der Zeitnot von Familien. Aus Sicht der iaf bestünde aber die Notwendigkeit, die spezifische Situation von Familien mit Migrationsgeschichte, ihre Situation auf Arbeitsmarkt und andere Barrieren zu zeitpolitischen Entlastungsmaßnahmen stärker zu berücksichtigen. Außerdem müsse jeweils reflektiert werden, wie die Umsetzung angestrebter Ziele auch kulturell unterstützt werden könne.

Iris Emmelmann wies darauf hin, dass der Deutsche Familienverband (DFV) die Wahlfreiheit der Familien bei der Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit ins Zentrum seiner Überlegung stelle. Bei den DFV-Überlegungen zur Ausgestaltung zeitpolitischer Konzepte gebe es viele Übereinstimmungen mit dem FDK. Auch aus Ihrer Sicht solle es keine Vorgabe von Lebensmodellen durch die Politik geben. Der DFV sehe die Priorität derzeit bei der Weiterentwicklung der vorhandenen Instrumente wie der Elternzeit und der Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger beispielsweise durch eine Anhebung des Pflegegeldes auf die maximale Höhe des Erstattungsbetrags für ambulanten Leistungen.

Auch im Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) gebe es noch kein ausgearbeitetes eigenes zeitpolitisches Modell, berichtete Miriam Hoheisel. Allerdings unterstütze der VAMV ebenfalls das Ziel einer neuen Gewichtung zwischen Erwerbsarbeit und Sorgearbeit und der Förderung der geschlechtergerechteren Aufteilung beider Arbeitsformen. Zum Optionszeitenmodell ergänzte Sie, dass die geplanten sechs Freistellungsjahre für Sorgearbeit für Kinder und pflegebedürftige An- und Zugehörige auf Zweielternfamilien ausgerichtet seien. Alleinerziehende bräuchten für die Kinderbetreuung doppelte zeitliche Freistellungszeiträume, so dass die 6 Jahre für diese Gruppe nach oben angepasst werden müsse.

Sophie Schwab betonte für das Zukunftsforum Familie (ZFF) die Diskrepanzen zwischen Arbeitswünschen und Arbeitszeitrealitäten und stellte die Frage ins Zentrum, was neben monetären Anreizen getan werden müsse, um diese aneinander anzunähern. Ziel müsse es sein, das Väter und Mütter gleichermaßen familiäre Verantwortung übernehmen könnten, ohne ihre eigenständige soziale Absicherung zu gefährden. Möglichkeiten zur Reduzierung der Arbeitszeit oder des temporären Ausstiegs für die Übernahme von Sorgearbeit müssten über alle Familienphasen hinweg geschaffen werden. Dazu sei auch eine gute und zeitlich flexible Betreuungs- und Pflegeinfrastruktur notwendig. Das ZFF engagiere sich, wie auch andere Teilnehmende des Fachgesprächs, für diese Ziele im Bündnis „Sorgearbeit fair teilen“.

Blick ins Plenum
Blick ins Plenum

Diskussion
In der Diskussion wurde von einigen Teilnehmenden das Ziel formuliert, das dominierende Erwerbsarbeitsmodell zu verändern. Dies könne nur über eine Veränderung der arbeits- und sozialpolitischen Rahmung geschehen, die die heute vorherrschenden „typisch männlichen“ und „typisch weiblichen“ Erwerbsverläufe und Zeitmuster hervorbringe. Aber auch „kleinere“ politische Initiativen wie die Einführung der Familienstartzeit nach Geburt könnten dazu beitragen, die geschlechtergerechtere Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zu fördern. Die Familienstartzeit sollte explizit als „Väterthema“ kommuniziert werden, um einen Effekt auf die Übernahme von Sorgearbeit bei den Männern zu verstärken. Auch der Umbau der Elternzeit, wie er im letzten Familienbericht vorgeschlagen wurde, könne dazu beitragen.

Ferner wurde die Frage diskutiert, wie man erfolgreich einen Wandel von Geschlechterrollen, der die Übernahme der Care-Arbeit für alle Geschlechter als Regel etabliere, unterstützen könne. Gesellschaftliche Normen folgten nicht nur materiellen Anreizen, sondern auch kulturellen Mustern. Deshalb brauche es Änderungen sowohl bei der der arbeits- und sozialpolitischen Rahmung der Erwerbs- und Sorgebiographien als auch bei den dominierenden Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern.

Einen Ansatz des Wandels sahen einige Teilnehmerinnen bereits in dem Umstand, dass Väter ihre Wochenarbeitszeiten verringern während Mütter diese erhöhen wollen. Es wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur auf Seite der Familien ein Wandel im Gange sei. Aufgrund des wachsenden Fachkräftemangels steige auch bei Unternehmen die Offenheit für eine familienfreundliche Betriebskultur und die Akzeptanz für familienfreundliche Arbeitszeiten und den Teilzeitwunsch von Männern. Betriebe reagierten zunehmend darauf, dass Mütter und Väter in der Familienphase weniger arbeiten wollten.

Umstritten blieb die Frage, wie eine echte Wahlfreiheit bei der Aufteilung der Erwerbs- und der Sorgearbeit innerhalb der Familien erreicht werden könne. Ein Teil der Teilnehmenden erkannte in der aktuellen Situation eine massive Förderung von Familienmodellen mit einer internen ungleichen Verteilung der Sorge- und Erwerbsarbeit und den daraus folgenden materiellen Abhängigkeiten und Armutsproblematiken für Frauen. Umgekehrt wurden Bedenken geäußert, dass eine am Leitbild der Gleichverteilung von Erwerbs- und Sorgeobliegenheiten orientierte Zeitpolitik die Wahlfreiheit der Familien mit dem Wunsch nach einen „klassischen“, stark arbeitsteiligen Familienmodell eingeschränkt würde.

Gemeinsam wurde unterstrichen, dass die gegenwärtigen arbeits- und sozialpolitischen Regelungen blind für die die Dimension der Sorgearbeit und die zeitlichen Bedürfnisse von Familien seien. Dies gelte es zu verändern. Auch der Grundgedanke, dass jedes Elternteil auch im Falle einer Trennung für sich selber sorgen kann und ausreichend eigene sozialstaatliche Ansprüche erworben haben müsse, wurde geteilt.