Am 24. Juni 2022 fand in Berlin die AGF-Fachtagung „Familienpolitische Vorhaben der Bundesregierung in der aktuellen Legislaturperiode“ statt. Darin wurden zum einen die großen Linien der familienpolitischen Projekte der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode von der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Ekin Deligöz vorgestellt. Zum anderen wurden die geplante Reform des Elterngelds und der Elternzeit sowie die Neuordnung der Pflege- und Familienpflegezeit von Stefan Reuyß (SowiTra) und Frank Schumann (Bundesverband wir pflegen) kommentiert.
1. Teil: Familienpolitische Vorhaben der Bundesregierung in der aktuellen Legislaturperiode“
Vortrag Ekin Deligöz
Ekin Deligöz berichtete zunächst kurz von ihrem vorrangegangenen Termin, der Bundestagsabstimmung zur Abschaffung von Paragraf 219a. Sie bewertete dies als historisch und als Schritt zur Stärkung der informierten Selbstbestimmung von Frauen.
Sie leitete ihren Vortrag mit einigen ihrer persönlichen Erfahrungen ein, die sie als Kind gemacht hat, als sie mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert ist. Sie betonte dabei die herausragende Bedeutung der Bildung für gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern mit und ohne Migrationserfahrungen. Dann skizzierte sie die aktuellen familienpolitischen Herausforderungen und die Maßnahmen, die von der Bundesregierung zur Bewältigung dieser Herausforderung geplant sind. Das Aufwachsen von Kindern, ihre materielle Situation und das Bereitstellen von Chancen für alle sei keine rein private Aufgabe, sondern liege in der gesellschaftlichen Verantwortung.
Sie ging zunächst auf die geplanten Änderungen im Personenstandsrecht ein. Dazu sei u.a. geplant, das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Ferner soll die Elternschaft in der Ehe zweier Frauen gestärkt werden. Wenn ein Kind in die dieser Ehe geboren wird, sollen automatisch beide rechtliche Mütter des Kindes werden, und damit bestehende Ungleichbehandlungen gegenüber den Ehen von Mann und Frau abgebaut werden. Hier seien die Verhandlungen bereits im Gange. Die Diskussion über die neuen „Verantwortungsgemeinschaften“ stünden hingegen noch ganz am Anfang.
Zu Maßnahmen, die sich unter die familienpolitische Trias von Zeit, Geld, Infrastruktur subsumieren lassen berichtete sie, dass das Gute Kita-Gesetz weiterentwickelt werden solle. Der Schwerpunkt läge dabei auf der Qualität der Kitaangebote. Die Umsetzung der Ganztagsförderung für Kinder im Grundschulalter würde aufgrund der unterschiedlichen bereits eingeschlagenen Entwicklungspfade in den Ländern zu vielfältigen Lösungen führen. Hier seien die Länder aufgerufen, die zur Verfügung stehenden Mittel schnell abzurufen und mit Hochdruck an der Umsetzung des Ausbaus und der Qualität der Angebote zu arbeiten.
Zur Weiterentwicklung des Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetzes lägen bereits Konzepte im Ministerium vor. Im Zentrum stünde das Ziel, pflegende Zu- und Angehörigen durch die Einführung einer Lohnersatzleistung im Falle pflegebedingten Verkürzung der Arbeitszeit zu unterstützen.
Für die Reform des Elterngelds sei geplant, die Beantragung zu vereinfachen und zu entbürokratisieren. Insgesamt solle die gemeinschaftliche elterliche Verantwortung u.a. durch die Einführung einer zweiwöchigen vergüteten Freistellung für Väter (bzw. die Partnerin) nach der Geburt eines Kindes gestärkt werden. Bei Frühgeburten solle die maximale Elternzeit verlängert werden.
Die Arbeit an der Kindergrundsicherung habe bereits begonnen. Die interministeriellen Arbeitsgruppen seien gebildet und Eckpunkte erwarte sie für das kommende Jahr. Ziel sei es, noch in dieser Wahlperiode zu ersten Vereinfachungen der Leistungen für bedürftige Kinder und zu Auszahlungen der Kindergrundsicherungsleistungen kommen. Allerdings sei die Konzeption der Kindergrundsicherung, zu der auch eine Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums gehöre, eine anspruchsvolle Aufgabe.
Diskussion
In der offenen Runde nach dem Vortrag wurden unter anderem nach Maßnahmen der Bundesregierung zur Überwindung der Corona Folgen für Kinder und Jugendliche gestellt. Frau Deligöz wies dazu auf das Aktionsprogramm “Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche” und die weiteren Folgemöglichkeiten der Mittelbeantragung hin.
Die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung im Grundschulalter sei ebenfalls ein wichtiger Baustein zur Überwindung der Corona-Folgen. Viele Kinder, die durch Corona Lernrückstände aufwiesen und unter eingeschränkten sozialen Kontakten gelitten hätten, könnten besonders von Ganztagsangeboten profitieren. Sie betonte, dass die Länder die zugesagten Gelder abrufen müssten, um schnell beim Ausbau und der Verbesserung der Angebote voran zu kommen.
Unter die Bewältigung der Corona Folgen falle auch das Thema der faireren Aufteilung von Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern. Zwar hätte in den ersten sechs Monaten der Pandemie in Teilen der Bevölkerung eine geschlechtergerechtere Teilung der Haus- und Kinderbetreuung stattgefunden. Auf längere Sicht hätten sich allerdings die eher klassische Arbeitsteilung ausgeweitet. Unter anderem böten die Weiterentwicklung des Elterngeldes, die Einführung der „Vätertage“ um die Geburt aber auch die Weiterentwicklung des Gender Budgetings, das in Zukunft eine bessere Beurteilung finanzpolitischer Maßnahmen auf die Gleichstellung der Geschlechter und Planungsinstrumente bereitstellen solle, Ansatzpunkte zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit.
Ferner wies Frau Deligöz darauf hin, dass die Situation Alleinerziehender und Getrennterziehender von Seiten der Ministerin eine hohe Aufmerksamkeit erhalte. Monetäre Maßnahmen zur Verbesserung der finanziellen Situation müssten aber in der Regel mit dem Finanzministerium abgestimmt werden. Dies gelte beispielsweise für Themen wie die steuerrechtliche Anrechnung von Mehrbedarfen bei annähernd paritätischen Kinder-Erziehungsmodellen nach Trennungen.
Sie wies außerdem darauf hin, dass der Auftakt des neuen SGB VIII Prozesses bereits stattgefunden habe. Auch für die neue Pflegezeit lägen Pläne vor, bei denen aber die Finanzen nicht ausverhandelt seien. Hier seien noch aufwendige Abstimmungen mit dem BMAS und BMG notwendig.
Frau Deligöz endetet mit dem Appell, die Pläne des BMFSFJ mit eigenen Forderung zu unterstützen. Aufgrund der Belastungen des Haushalts durch die Corona-Pandemie und den neuen Schwerpunktsetzungen durch die „Zeitenwende“ konkurrierten die familienpolitischen Leistungen sehr stark mit anderen Vorhaben. Hier müssten die Verbände Ihre Forderungen sichtbar machen.
2. Teil: Zeitpolitische Maßnahmen
Im zweiten Teil der Veranstaltung standen Anforderungen aus Sicht von Wissenschaft und Betroffenen an geplante zeitpolitische Maßnahmen der Bundesregierung im Fokus.
Zeit für Eltern: Zukünftige Ausgestaltung des Elterngeldes/ der Elternzeit
Stefan Reuyß vom Institut für sozialwissenschaftlichen Transfer (SowiTra) stellte Ergebnisse der Studie „Reformvorschläge für die Ausgestaltung des Elterngeldes“ vor, die er mit seinen Kolleginnen Svenja Pfahl und Maike Wittmann aktuell erarbeitet hat und die zwei Wochen zuvor veröffentlicht wurde. Dabei stand die Formulierung und Überprüfung von Maßnahmen für vier mögliche normative Zielstellungen einer Reform des Elterngeldes im Zentrum. Diese vier Ziele waren „mehr Partnerschaftlichkeit“, intensivere Väterbeteiligung“, soziale Gerechtigkeit“ und „krisenfestes Elterngeld“.
In der Diskussion wurde unter anderem auf spezifische Gruppen hingewiesen, für die die geltenden Regelungen des Elterngeldes keine befriedigenden Lösungen bieten. Dies beträfe beispielsweise Väter (oder Mütter) nach Trennungen/Scheidungen, die bei einem weiteren Kind in ihrer Folgefamilie in Elternzeit gehen möchten. Damit falle ein Einkommensanteil weg, was zum Ausfall des Unterhalts des Kindes aus der ersten Partnerschaft führen könne. Die Väter (oder Mütter) stünden damit vor der Entscheidung durch das Eintreten des Unterhaltsvorschuss Schulden anzuhäufen oder beim zweitem Kind auf die Elternzeit zu verzichten. Probleme bestünden aber auch bei Eltern chronisch erkrankter Kinder, bei denen die zur Verfügung stehenden Freistellungszeiten nicht die existierenden Bedarfe abdeckten.
Herr Reuyß wies auf die großen Unterschiede zwischen den Wünschen von Paaren zu Arbeitszeiten und zur innerfamiliären Arbeitsteilung bevor sie Eltern werden im Vergleich zu den real gelebten Modellen nach Eintreten der Elternschaft hin. Die Wünsche der Paare vor der Elternschaft umfassten eine deutlich egalitärere Arbeitsteilung als sie dann in der Realität gelebt werden könnten. Mehr Partnerschaftlichkeit in der Elternschaft könne nur erreicht werden, wenn die Normalitätsvorstellungen in der Arbeitswelt den Wünschen von Paaren stärker angepasst würden. Das Elterngeld könne nur ein Baustein in diesem Prozess sein.
Eine neue Familienpflegezeit
Frank Schumann vom Bundesverband wir pflegen e.V. referierte zu den Anforderungen, die an die Weiterentwicklung des Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetzes aus Sicht des unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowie aus der Perspektive von betroffenen Angehörigen gestellt werden. Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung der familiären pflegerischen Sorgearbeit in Deutschland und den daraus resultierenden Belastungen pflegender An- und Zugehöriger stellte er Leitlinien vor, die ein neues Familienpflegezeitgesetz berücksichtigen müsse, um die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu verbessern.
Die Präsentation von Herrn Schumann findet sich hier:
• Eine neue Familienpflegezeit. Frank Schumann, Mitglied des Bundesvorstands wir pflegen
In der Diskussion wurde von Herrn Schumann darauf hingewiesen, dass die Mitglieder des „Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ gehalten sind bis zur Veröffentlichung des Berichts keine Ergebnisse aus der aktuellen zweiten Beiratsperiode nach außen zu geben. Die vorgetragenen Vorschläge bezogen sich also auf den veröffentlichen Beiratsbericht der ersten Periode. Daher musste die Frage nach möglichen Maßnahmen zur Verbesserung der der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf für Eltern mit Kindern mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf zurückgestellt werden. Dies sei aber ein Thema des in Bearbeitung befindlichen zweiten Berichts.
Es wurde von verschiedenen Teilnehmer:innen betont, dass zur Verbesserung der Situation von pflegenden Angehörigen nicht nur das Familienpflegezeit, sondern vor allem auch die entlastende Infrastruktur, die die häusliche Pflege arrondiert, ausgebaut und in ihrer Qualität verbessert werden müsse. Dies gelte beispielsweise für Tages- und Nachtpflege sowie die Kurzeitpflege u.a. Es dürfe gleichzeitig aber auch bei der Angehörigenpflege die Qualität der Pflege und die Achtung der Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen und sowie die Gewaltprävention nicht außer Acht gelassen werden.
Es kam außerdem die Anregung an den Beirat, auch die Situation von Angehörigen mit Migrationsgeschichte, die pflegebedürftige Eltern im Ausland haben, in den Blick zu nehmen. Deutschland bemühe sich weltweit, qualifizierte Arbeitskräfte für die Arbeit in Deutschland zu gewinnen. Diese Fachkräfte hätten aber auch Eltern, die mit steigendem Alter einen Hilfe- und Pflegebedarf entwickelten. Auch für diese Gruppe müssten Möglichkeiten geschaffen werden, Beruf und transnationale Pflege- und Unterstützungsaufgaben zu bewältigen.
Sven Iversen wies zum Abschluss der Veranstaltung noch auf die Europäische Care-Strategy hin, die zurzeit in der Entwicklung sei. Hier müsse darauf hingewirkt werden, dass auch von der europäischen Ebene ein Impuls für die Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger ausgehe.