26. Oktober 2023: Internationales Fachgespräch zur Zeitpolitik “Innovative aspects for time policy over a families life course”

Foto der Präsenzteilnehmerinnen

Am 26. Oktober 2023 veranstaltete die AGF ein englischsprachiges Fachgespräch zu innovativen zeitpolitischen Konzepten. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Gegenüberstellung des deutschen „Optionszeitmodells“ und des spanischen „Zeitpolitischen Aktionsrahmens“ sowie die daraus abgeleiteten konkreten politischen Maßnahmen zur Entlastung von Familien. An dem Fachgespräch in hybrider Form nahmen Expertinnen aus Spanien, Deutschland, Frankreich und Ungarn teil.

Dr. Karin Jurczyk, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, stellte das von ihr und Prof. Mückenberger entwickelte Optionszeitenmodell vor. Dieses geht davon aus, dass Zeit ein Aspekt von Wohlstand ist, der neben anderen materiellen Lebensbedingungen möglichst gerecht zwischen den Geschlechtern und sozialen Gruppen verteilt werden sollte. Dem stehe derzeit entgegen, dass die gegenwärtige arbeitsrechtliche und sozialstaatliche Rahmung des Lebenslaufs vor allem auf die Erwerbsarbeit im Erwachsenenalter ausgerichtet sei und die Sorgearbeit als gesellschaftlich notwendige Aufgabe weitgehend ausblende. Dies führe u.a. zu Überforderung und Zeitnot von Frauen, die die widersprüchlichen Anforderungen von Erwerbsarbeit und Familie miteinander vereinbaren müssten. Das Optionszeitenmodell sieht demgegenüber ein individuelles Zeitbudget vor, aus dem Erwachsene insgesamt 6 Jahre für familiale oder gesellschaftliche Sorgearbeit, 2 Jahre für persönliche berufliche Weiterbildung und 1 Jahr für Selbstsorge „entnehmen“ können, um sich ganz oder teilweise von der Erwerbsarbeit freistellen zu lassen.

Marc Martorell von der Barcelona Time Use Initiative (TUI) stellte die „Barcelona Declaration on Time Policy“ vor und erläuterte einige zeitpolitische Aktivitäten, die in Spanien in Gesetzesform gegossen wurden. Zeitpolitik wird von der TUI als Instrument zur Veränderung der gesellschaftlichen Organisation von Zeit verstanden. Im Mittelpunkt steht die stärkere Ausrichtung der gesellschaftlichen Zeitmuster an den Bedürfnissen der Menschen. Ziel ist es, durch eine bessere Zeitpolitik die Gesundheit der Bevölkerung, die Geschlechtergerechtigkeit, die betriebliche und gesellschaftliche Produktivität und die ökologische Nachhaltigkeit zu verbessern. Ausgehend von der Zeitpolitischen Erklärung wurden im Zeitpolitischen Aktionsrahmen der TUI Empfehlungen für zeitpolitische Gestaltungsmaßnahmen formuliert, die sich sowohl an kommunale Akteure als auch an die Verantwortlichen der spanischen autonomen Regionen und der spanischen Nationalregierung richten.

Im Zentrum beider Ansätze steht die Verbesserung der Vereinbarkeit moderner Anforderungen von Erwerbsarbeit, Sorgeverantwortung für andere, aber auch von Zeitbedarfen für Selbstsorge, Erholung, Bildung u.a. In der Diskussion wurde für alle im Fachgespräch vertretenen Länder eine hohe Dringlichkeit festgestellt, die Zeitnot von Familien und insbesondere von Frauen durch entlastende Maßnahmen zu lindern. Wachsende Zeitkonflikte, der demografische Wandel und der Fachkräftemangel in den Care-Berufen seien einige der Treiber der aktuellen Care-Krise, die die Care-Lücken in den Familien und bei der Versorgung von Pflegebedürftigen in Zukunft noch verschärfen würden. Neben der Umsetzung konkreter zeitpolitischer Maßnahmen wurde insgesamt die Notwendigkeit gesehen, die Bewertung von Erwerbs- und Sorgearbeit neu auszubalancieren und zu einer Aufwertung von familialer und beruflicher Sorgearbeit zu kommen.