07. September 2023: Fachgespräch zu den Vorschlägen des unabhängigen Beirats zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf

Titelseite des Beiratsberichts

Der unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf hat im Juli 2023 seinen zweiten Gesamtbericht an die Familienministerin Lisa Paus übergeben. In dem Fachgespräch der AGF am 07. September 2023 diskutierten die Teilnehmenden den Bericht und seine Empfehlungen sowie die Stellungnahme der AGF und gaben Einschätzungen aus einem erweiterten Expertenspektrum. Dazu nahmen auf Einladung der AGF 25 Expertinnen und Experten aus Familienverbänden, Pflege, Sozialer Arbeit, Gerontologie und zu Gleichstellungsfragen teil.

Links zu den im Bericht genannten Dokumenten:

Die Frage der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ist für die Familien von höchster Relevanz und die aktuelle Situation benötigt aus mehreren Gründen eine dringende Verbesserung. Zum einen sind die akuten Belastungen und die sozialen Folgekosten – unter anderem niedrige Renten – für pflegende Angehörige sehr hoch. Zum anderen bringen die aktuellen gesetzlichen Regelungen weder finanziell noch zeitlich ausreichende Entlastungseffekte. So gehen die finanziellen Maßnahmen, die sich auf kostenlose Darlehen beschränken, an den Bedarfen der pflegenden Angehörigen vorbei und werden deshalb kaum genutzt.
Vor diesem Hintergrund hat der unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf Empfehlungen zu notwendigen Weiterentwicklungen für die bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowie der unterstützenden Infrastruktur für pflegende Angehörige vorgelegt.

Foto der Referent:innen

Vortrag von Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey

Die Vorsitzende des unabhängigen Beirats stellte die zentralen Ergebnisse und Empfehlungen des Berichts in ihrem Vortrag vor (Link zur Präsentation).

Sie benannte einige Grundannahmen auf die der Beirat seine Analysen und Empfehlungen gegründet hat. Dazu gehört die Überzeugung, dass es einer stärkeren Anerkennung der informellen Pflege als (Sorge-)Arbeit bedürfe. Bereits heute würden die pflegenden Angehörigen als „größter Pflegedienst Deutschlands“ bezeichnet und durch den demografischen Wandel die Bedeutung der Angehörigenpflege weiter zunehmen. Frau Prof. Dr. Kuhlmey betonte, dass die Diskussion um die Verteilung der Sorgearbeit – neben der Kindererziehung – auch die Pflegearbeit stärker in den Blick nehmen müsse. Als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel, der mit einer erhöhten (Arbeitsmarkt-)Mobilität, der steigenden Frauenerwerbstätigkeit und veränderten Lebensentwürfen einhergeht, müsse außerdem die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf deutlich verbessert werden. Dies sei sowohl für pflegende Angehörige als auch für Zugehörige, deren Verantwortungsübernahme für Pflegebedürftige nicht auf einem Verwandtschaftsverhältnis beruht, notwendig.

Ferner sehe sich der Beirat der Förderung der geschlechtergerechten Verteilung der Sorgearbeit und der Bekämpfung von (zumeist weiblicher) Altersarmut verpflichtet. Gesamtgesellschaftlich relevante Übernahme von Pflegearbeit dürfe nicht in individuelle Schlechterstellung (Austreten aus Erwerbsarbeit / hohe Einkommensverluste / Rentenanspruchsverluste) münden.

Frau Prof. Dr. Kuhlmey stellte überblicksartig die Empfehlungen des Beirats für die folgenden Themen vor:

  • Familienpflegezeit und Familienpflegegeld
  • Kulturelle und rechtliche Logik der Pflege – Konsequenzen und Veränderungsoptionen
  • Pflegebedürftige Kinder und Jugendliche
  • Pflegende in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)
  • Vereinbarkeit unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie

Die kompletten Empfehlungen finden sich im Beiratsbericht, den Sie hier herunterladen können, oder in zusammenfassender Form in der Vortragspräsentation.

Insgesamt erachtet der Beirat die Förderung gemischter Pflegearrangements aus informeller familiärer und formeller professioneller Pflege sowie die Verbesserung der Pflegeinfrastruktur zur Entlastung pflegender Angehöriger und die Schaffung eines familienorientierten Arbeitsumfeldes mit flexiblen Freistellungsregelungen als dringend notwendig. Unter anderem empfiehlt er dazu die Einführung einer Familienpflegezeit mit einem Familienpflegegeld von maximal 36 Monaten Dauer. Davon sollen maximal sechs Monate als vollständige Freistellung genommen werden können. Bei einer teilweisen Freistellung sollte die Arbeitszeit gegenüber der vorherigen Arbeitszeit reduziert werden aber bei mindestens 15 Stunden pro Woche verbleiben, um keinen Ausstieg aus dem Beruf zu fördern. Gegenüber bisherigen gültigen (Teil-) Freistellungsregelungen sieht der Bericht außerdem eine Ausweitung des Berechtigtenkreises auf zugehörige Personen wie Freunde und Nachbarn vor.

Stellungnahme der AGF zum Bericht

Die AGF hatte nach der Veröffentlichung des Beiratsberichts eine Stellungnahme vorgelegt. Holger Adolph, wissenschaftlicher Referent der AGF, stellte zentrale Punkte daraus vor.

Er betonte, dass die AGF die umfassende Herangehensweise des Beirats zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, zur Weiterentwicklung von privaten Pflegearrangements und der formellen Versorgungsstrukturen unterstütze. Insbesondere befürwortete sie die Einführung einer steuerfinanzierten monetären Leistung als Entlastung und Anerkennung der Leistungen von pflegenden Angehörigen.

Holger Adolph wies darauf hin, dass sich durch die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen eine deutliche Entlastung für die Familien ergeben würde. Nicht zuletzt angesichts der aktuellen Situation im professionellen Pflegebereich würden die Belastungen der Familien allerdings nicht komplett verschwinden. Dazu seien unter anderem die entlastenden Strukturen des formellen Pflegewesens zu defizitär und der Fachkräftemangel zu groß.

Trotz der breiten Zustimmung zu den Plänen des Beirats gebe es von Seiten der AGF jedoch auch eine Kritik hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der empfohlenen steuerfinanzierten monetären Leistung. Diese soll nach der Beiratsmehrheit als Lohnersatzleistung in enger Anlehnung an das Elterngeld gestaltet werden. Holger Adolph erläuterte, dass die AGF hier für eine sozialere Ausgestaltung plädiere, was auch eine pauschale Leistung bedeuten könne. Die AGF sehe für die Ausgestaltung der Leistung zwei legitime Ziele, die in Konkurrenz zueinander stehen. Das sei zum einen das gleichstellungspolitische Ziel der geschlechtergerechten Verteilung der Pflegearbeit und zum anderen das Ziel des sozialen Ausgleichs bzw. der Entlastung von Niedrigeinkommenshaushalten, die von der Angehörigenpflege finanziell am stärksten belastetet seien.
Der Beirat hätte sich dafür entschieden, das gleichstellungspolitische Ziel in den Vordergrund zu stellen. Dabei ginge die Beiratsmehrheit im Wesentlichen von einer Analogie zum Elterngeld aus, bei dem ein gleichstellungspolitischer Effekt zu erkennen sei.

In Analogie zur Elternzeit verspreche sich der Beirat einen ähnlichen Effekt. Es werde von der AGF jedoch bezweifelt. , dass bei einer Ausgestaltung des Familienpflegegeldes als Lohnersatzleistung, ähnlich hohe gleichstellungspolitische Effekte zu erwarten seien, wie sie sich erfreulicherweise beim Elterngeld zeigen. Holger Adolph begründete dies unter anderem damit, dass es bei der Angehörigenpflege weniger Mann-Frau-Dyaden seien (wie bei der Mehrheit der Eltern), die unter sich frei (oder ökonomischen Anreizen folgend) entscheiden, welches Geschlecht welchen Anteil der Sorgearbeit übernimmt. Die potenziell Pflegenden, die einem älteren Familienmitglied zuzuordnen sind, seien nicht automatisch Mann-Frau-Konstellationen: beispielsweise haben manche pflegebedürftige Eltern nur Mädchen oder nur Jungen als Kinder oder es ist aufgrund von entfernten Wohnorten der Kinder faktisch nur ein Geschlecht für die Angehörigenpflege verfügbar.

Zudem betonte er, dass die Entscheidung über die Pflegeperson nicht ohne die pflegebedürfte Person selbst getroffen werden könne.
Holger Adolph ging in seinen Ausführungen davon aus, dass sich aus haushaltspolitischen Gründen unabhängig von der Ausgestaltung der Leistung im Bundeshaushalt voraussichtlich eine bestimmte maximale Gesamthöhe durchsetzen ließe. Unter diesen Umständen meine die AGF, dass eine pauschalierte Leistung, die allen pflegenden Angehörigen in gleicher Höhe zur Verfügung stehen solle, mit dem sicher zu erzielenden sozialen Effekt höher zu bewerten sei als ein nur mit hoher Unsicherheit zu erzielender gleichstellungspolitischer Effekt, der mit weiteren Umverteilungen von unten nach oben verbunden ist.

Er schloss mit einigen Empfehlungen für die weitere Arbeit des Beirats:

  • Der nächste Bericht sollte die existierenden und potenziellen Konflikte zwischen Angehörigen und Pflegebedürftigen gerade hinsichtlich der Autonomie von pflegebedürftigen Menschen ausführlicher thematisieren. Dies käme in den beiden bisherigen Berichten etwas zu kurz und sei sehr harmonisierend dargestellt. Es sollten dabei die Möglichkeiten der Konfliktreduzierung im Zentrum stehen.
  • Die Entlastungsmöglichkeiten für Familien mit Migrationsgeschichte sollten stärker in den Blick genommen werden. Das beträfe sowohl die Zugangsbarrieren für hier lebende Migranten zu Entlastungen aber auch die bisher kaum beleuchteten Probleme von transnationalen Familien, die Pflegebeziehungen über Ländergrenzen hinweg organisieren müssen.
  • Der Beirat solle ausdrücklich auch in der kommenden Arbeitsperiode die qualitative Weiterentwicklung der professionellen Entlastungsangebote thematisieren. Er könne mit seinem Bericht die spezifische Perspektive der pflegenden berufstätigen Angehörigen glaubwürdig in diesen Diskurs einbringen. Zurzeit seien viele Diskussionen zur Weiterentwicklung der Pflegeversorgung weitgehend von Leistungsanbietern, Professionen und der Wissenschaft bestimmt.
  • Ferner solle in den nächsten Berichten die Bedeutung von Haupt- und Nebenpflegepersonen genauer untersucht werden. Die vorliegenden Daten fokussierten sehr stark auf die Hauptpflegepersonen und würden die Komplexität und die pflegerischen Beiträge der Nebenpflegepersonen und der erweiterten Netzwerke unterschätzen. Hier könne der Bericht zur Differenzierung beitragen.
  • Der Bericht solle das Thema der Unterstützung Pflegebedürftiger durch ausländische Care Arbeiter:innen in der Häuslichkeit (Live-In Betreuung) vertiefen. Die überwiegend weiblichen Arbeitskräfte hätten nicht nur einen unzureichenden arbeitsrechtlichen Schutz, sondern die Frauen in ihren Heimatländern häufig selbst minderjährige Kinder oder pflegebedürftige Angehörige, um deren Betreuung sie sich nicht ausreichend kümmern können. Es brauche Lösungen, die sowohl Interessen der Pflegebedürftigen als auch der Care-Arbeiter:innen und ihrer jeweiligen Familien fair gegeneinander abwägen.
Blick in das Plenum

Diskussion

In der Diskussion wurden sowohl Aspekte aus den beiden Vorträgen vertieft als auch neue Punkte aufgegriffen.

Gleichstellungspolitische und soziale Ziele stärker in Einklang bringen: Die Konstruktion des neuen Familienpflegegeldes wurde von den Teilnehmenden kontrovers diskutiert und für die unterschiedlichen möglichen Ausgestaltungen weitere Argumente angeführt. Wichtig sei, dass bei der Abwägung von vergleichbar hohen Verteilungsbudgets ausgegangen werde und nicht, wie in der bisherigen Diskussion teilweise geschehen, hohe Aufwände für die Lohnersatzleistung mit niedrigen Gesamtbudgets für eine Pauschalleistung und damit sehr niedrigen Pauschalen verglichen würden. Einzelne Teilnehmende merkten an, dass versucht werden solle, die gleichstellungspolitischen und die sozialen Ziele nicht gegeneinander in Stellung zu bringen, sondern nach Lösungen zu suchen, die beiden Zielen gerecht würden.

Professionelle Pflege und Kommunen als Akteure der Unterstützung pflegender Angehöriger stärken: Als Barrieren für die Umsetzung der geforderte effektive Weiterentwicklung flexibler und zielgenauer Entlastungsangebote für pflegende Angehörige wurden zum einen die nach wie vor mangelnde finanzielle und ideelle Anerkennung der professionellen Pflege genannt. Zum anderen seien die fehlenden Möglichkeiten der kommunalen Steuerung ein Faktor, der die systematische und geplante Schaffung von Entlastungsstrukturen für pflegende Familien behindere. Zwar hätte die Einführung der Pflegeversicherung zu einem bis dahin nicht gekannten Ausbau der ambulanten Pflegeversorgung geführt. Allerdings sei das Angebot zu einseitig auf „profitable Standardbedarfe“ ausgerichtet und es gäbe zu wenig differenzierte und flexible Angebote, die pflegende Angehörige in spezifischen und dynamisch sich verändernden Bedarfslagen ausreichend unterstützen. Hier fehle es an kommunaler Steuerungszuständigkeit und an kommunalen Angeboten. Es wurde unter den gegebenen Strukturen der Pflegeversicherung als eher unwahrscheinlich angesehen, dass die Kommunen die notwendigen Angebote zur Koordination der Pflegeleistungen von professionellen und informellen Akteuren und zur Entlastung für pflegende Angehörige aufbauen könnten. Die Orientierung an privaten Anbietern führe beispielsweise in der Kurzzeitpflege zu einer Unterversorgung, aber auch eher zu einer Ausrichtung der Angebote an den Interessen der Leistungsanbieter, „unkomplizierte“ Bewohner:innen für ihre Langzeitpflegeeinrichtungen zu rekrutieren, als die komplexeren rehabilitativen Bedarfe der Pflegebedürftigen ins Zentrum der Weiterentwicklung zu stellen.

Pflegeprävention ausbauen: Es wurde ferner angeregt, das Thema der Prävention von Pflegebedürftigkeit in den folgenden Berichten aufzugreifen. Dies solle sowohl den gesamten Lebensverlauf betreffen als auch die spezifische Prävention bei pflegenden Angehörigen, um hier die hohen Belastungen zu kompensieren.

Vor dem Hintergrund, dass das Diskussionsthema des Fachgesprächs „nur“ der Bericht des Beirats und keine konkrete Gesetzesinitiative gewesen sei wurde zum Ende der Diskussion die Frage der politischen Umsetzbarkeit der Empfehlungen angesprochen. Hier wurde auf die Haushaltslage des Bundes und die aktuellen politischen Probleme zur Umsetzung sozialpolitischer Projekte in der Bundesregierung hingewiesen. Jedoch sei die Einführung einer neuen Familienpflegezeit im Koalitionsvertrag verankert und aus dem BMFSFJ kämen Signale, dass weiterhin an der Umsetzung dieses Vorhabens festgehalten würde. Der Beiratsbericht trage dazu bei, den politischen Druck für notwendige Verbesserungen der Situation pflegender An- und Zugehöriger zu erhöhen und biete gangbare Wege und Modelle der Umsetzung an.